Am 17. Juli konnte man im Kiewer Kreativ-Zentrum IZONE einen besonderen Gast begrüßen: Natalija Krywda, Kulturwissenschaftlerin, Doktorin der Philosophie und Professorin an der Kiewer Nationalen Taras-Schewtschenko-Universität, hielt einen Vortrag im Rahmen des Projekts „Die Grenze“, jenes groß angelegten Ausstellungsprojekts, das das Goethe-Institut vom 20. Juni bis 25. Juli im Ausstellungsraum Plivka im Gebäude des Dovzhenko-Centers in Kiew ausrichtete. Teil des Programms war unter anderem eine Diskussionsreihe in Zusammenarbeit mit der Kulturstiftung IZOLYATSIA. Platform for Cultural Initiatives. Diskutiert wurden hier politische Kategorien der Gegenwart sowie die Definition von Begriffen wie „Grenze“, „Limit“, „Trennlinie“, „Randgebiete“ u. a.
Bei Natalija Krywdas Beitrag ging es um europäische Mythologie und um mythologische Aspekte in der Entstehung des modernen Europa. Das Thema war nicht zufällig gewählt, steckte und steckt doch das Mythologisieren von Geschichte noch immer voller Widersprüche und bewegt die Gesellschaft wie kaum ein anderes. Gerade heute ist das Thema brandaktuell: wir erfahren am eigenen Leibe, wie historische Mythen gleich gewaltigen Hebeln für die Manipulierung der öffentlichen Meinung eingesetzt werden können. Der Schriftsteller und Mythologieforscher Mircea Eliade sagte einst: „Realität ist das, was wirklich existiert, sie ist eine realisierte Möglichkeit. Welche Realität umgibt uns, welche Möglichkeit wurde realisiert, oder ist das eine Frage unserer Wahrnehmung? Mythen existieren in jeder Gesellschaft, unabhängig davon, ob die Gesellschaft sie akzeptiert oder nicht.“
Krywda bemerkt, dass zwischen der Geschichte der menschlichen Existenz und der Art, wie zukünftige Mythen als „heilige Geschichten“ entstehen, viele Gemeinsamkeiten bestehen: sie nehmen Gestalt an durch Abgrenzung des Kosmos vom Chaos, des Eigenen vom Fremden; und folglich sind die Begriffe „Mitte“ und „Grenze“ von zentraler Bedeutung. Durch die Symbolik von Mitte und Grenze entsteht ein Verständnis von Zeit und Raum, von „dieser“ und „jener“ Welt, und auch ein Verständnis des Menschlichen und des Göttlichen, von Kultur und Barbarei. Der Begriff der „Mitte“ wurde in Krywdas Vortrag eingehend und anhand von zahlreichen Beispielen erörtert (Eingang in die Unterwelt, Eckstein des Tempelbergs, auf dem der Jerusalemer Tempel steht, etc.), während das, was entfernt ist von der Mitte, als Distanz, als „Grenze“ definiert wird. In ihrer Eigenschaft als Kulturwissenschaftlerin merkt Krywda an, dass aus der Existenz von Grenzen auch die Existenz von „Grenzmenschen“ oder „Randsiedlern“ folgt. Letztere können zwischen den verschiedenen Welten reisen, zu denen sie Zugang haben, und dabei auf deren Annäherung aneinander hinwirken. Weiter beleuchtete die Autorin die Begriffe „fremd“ und „anders“: „fremd“ ist jemand, den wir niemals in unserer Welt aufnehmen werden, ein Feind der uns gewohnten Weltanschauung, während „anders“ jemand ist, der sich deutlich von uns unterscheidet, doch sind wir bereit, in ihm einen Menschen zu sehen, der über die gleichen Rechte und Eigenschaften verfügt wie wir selbst.