Berlinale-Blogger 2020
„Undine“: einmal Leben-Märchen und zurück
Auf den Berliner Filmfestspielen wurde der neue Film von Christian Petzold gezeigt, einer der führenden Figuren der Berliner Schule. Doch die berühmte realistische Erzählweise, die Absolvent*innen der Deutschen Filmakademie gemeinhin auszeichnet, kam hier nicht zum Tragen: die maliziöse „Undine“ beginnt wie ein einlullendes, schönes Märchen.
Von Egor Moskvitin
Die junge Historikerin Undine (gespielt von Paula Beer, die in Venedig für ihre Rolle in „Frantz“ ausgezeichnet wurde), erfährt, dass ihr Freund sie verlassen will. Erst weint sie und zerknüllt Taschentücher, dann aber gibt sie ihm eine ehrliche Warnung mit auf den Weg: da er versprochen habe, sie bis ans Ende ihrer Tage zu lieben, sei sie nun gezwungen, ihn umzubringen. Denn so ist es den wahren – nicht den Andersenschen – Meerjungfrauen der Überlieferung nach vorgegeben. In der deutschen und skandinavischen Mythologie heißen diese Undinen, genauso wie hier die Hauptfigur mit ihren feuerroten Haaren, elysischen Blicken und dem biegsamen Körper, der immer irgendwie verdeckt ist. Wir sehen zwar häufig, wie sich die junge Frau blitzschnell umzieht oder in ihre Decke einkuschelt, doch wir sehen sie – ungeachtet einer reißerischen und ironischen Erotik des Films – nie nackt. Könnte sie einen Schwanz haben? Das würde erklären, warum in ihrer Nähe Aquarien wackeln und sie Industrietaucher Christoph (gespielt von Franz Rogowski, der bereits in Petzolds Film „Transit“ mit Beer vor der Kamera stand) den Kopf verdreht, einem verletzlichen und schöngeistigen junger Mann, der ebenfalls das Zeug zum Märchenheld hat. Etwa in „Der standhafte Zinnsoldat“. Die Leidenschaft für Christoph lenkt Undine von der Bestrafung ihres treulosen Ex-Geliebten ab: wieder glaubt sie an die ewige Liebe.
Im modernen Film kommen so häufig Meerjungfrauen vor, dass diese vermutlich darüber nachdenken sollten, eine Gewerkschaft zu gründen. Im Film „Sirenengesang“ (2015) stellt die polnische Jungschauspielerin Michalina Olszanska eine mit Schwanz ausgestattete Verführerin und Menschenfresserin dar, die ihren Opfern in Nachtclubs auflauert. Im Film „Alisa, das Meermädchen“ (2007) der russischen Regisseurin Anna Melikjan gibt ein besonderes Mädchen aus der Provinz mit grünen Haaren sein Leben für das eines leichtlebigen St. Petersburger Prinzen hin, der dieses Opfer nicht einmal bemerkt. Und im irischen Film „Ondine – das Mädchen aus dem Meer“ (2009) trifft ein Mädchen aus den Tiefen des Meeres auf ein Mädchen im Rollstuhl – und dieses mythologische Abbild hilft dem Kind, sich in der realen Welt zurechtzufinden.
Doch Christian Petzold ist kein Märchen-Regisseur, sondern ein wissenschaftlicher Regisseur, und seine „Undine“ ist nicht nur ein Film über die Zerbrechlichkeit der Liebe, sondern auch über die Geheimnisse der Zeit. Denn es ist kein Zufall, dass die Hauptfigur als Stadtführerin arbeitet und somit die Geschichte des Berliner Schlosses nacherzählt. Da es nach dem Zweiten Weltkrieg im
Ostteil der Stadt lag, wurde das alte Gebäude vollständig zerstört. Doch auch der an seiner Stelle errichtete Palast der Republik hielt sich nicht lange: nach der Wiedervereinigung Deutschlands wurde er ebenfalls abgerissen. Nun wird am Standort der beiden Paläste ein Museum aufgebaut, dessen architektonische Gestalt der des Stadtschlosses nachempfunden ist.
Das Spiel mit der Imitation von Geschichte erfasst nicht nur die Stadt, sondern auch jeden der in ihr lebenden Menschen, und in einem Moment bemerkt die Kamera, die an einen Karton-Entwurf des Gebäudes heranfährt, auf der Bank davor eine der Hauptfiguren aus „Undine“. Doch während die Restaurator*innen die Vergangenheit retten, kämpfen die Figuren mit der Unmöglichkeit, zweimal in ein und denselben Fluss einzutauchen und wiederholt wahre Gefühle zu durchleben. Je schöner und erhabener die Liebe zwischen Undine und Christoph wird, desto mehr graut das Publikum der Gedanke an die Zeit. Denn die schwindelerregenden Träumereien der Hauptfiguren sind endlich, genau wie die Sauerstoffreserven bei Tauchern.
Aber wo in diesem rührenden und traurigen Märchen über die Meerestiefen liegt der doppelte Boden? Warum kreist die Kamera um ein Modell Berlins, und weshalb hält die Protagonistin unaufhörlich lange Vorträge über die architektonische Vereinigung von BRD und DDR? Ist es, um „professionelle“ Zuschauer*innen zu verspotten, die sich daran gewöhnt haben, Filme zu analysieren, anstatt sich ihren Gefühlen zu überlassen? Oder ist es die Metapher der Errichtung und des Falls von Mauern zwischen zwei Typen von Weltanschauungen – der praktischen und der mythologischen? Die Hauptfiguren erleben über die Länge des Films hinweg eine folkloristische, extrem schöne, erhabene und dabei gefühlvolle Verbindung, und nach dieser einzigartigen Liebe sind sie fast schon zwangsläufig für alles andere gestorben. Wie Tauchende, deren Gehirne nach einer zu intensiven Tiefenerfahrung ihre Funktionen einstellen.
Das Erschütternde an „Undine“ ist, dass der Film (so wie übrigens auch „Anna Karenina“, worauf er anderthalb Stunden lang mit aufdringlichen Eisenbahn-Bezügen anspielt) nach seinem Schlüsselmoment noch eine Zeitlang weiterläuft. Und damit die Zuschauer*innen aus den Tiefen des Wassermärchens herausreißt – aber nicht, um sie zu befreien, sondern damit sie noch fünfzehn Minuten lang nach Luft schnappen und quasi verlöschen, während sie hilflos einen schon ganz anderen Film zu Ende schauen müssen. Und das ist dann eben wieder ein Film genau jener Berliner Schule mit ihrer realistischen Erzählform und einer maximal schmerzhaften Darstellung menschlicher Leiden. Vor den Protagonist*innen und dem Publikum liegt ein Leben mit banalen Entscheidungen, betretenem Schweigen und kraftloser Langeweile. Eine der Figuren, die vor kurzem noch Zügen hinterhersprintete, bewegt sich nur noch auf Krücken durch dieses Leben. Und zurecht kommt sie mit diesem leblosen Leben nur auf dem Grund des Meeres. Wir aber können uns im Unterschied zu ihr vor der eigenen Gefühlsleere in den Film flüchten. Immerhin ertrinken wir dort nicht.