Irena Vrkljan
„Sprache ist auch eine Art Heimat“
Irena Vrkljan wurde 1930 in Belgrad geboren, ihre Mutter stammte aus Wien, ihr Vater las ihr Gedichte von Morgenstern vor. „Ich lebte tatsächlich in einer europäischen Welt“, so die Schriftstellerin. 1941 floh ihre Familie nach Zagreb. Mehr über den Krieg erfuhr sie erst Jahre später.
Car: Wir beginnen unser Gespräch in diesem seltsamen Frühling 2020, in dem wir mit einer Reihe von schwerwiegenden Problemen konfrontiert sind. Ich würde gerne damit anfangen, Sie zu bitten, Ihre Kindheit zu beschreiben.
Vrkljan: Ich sage immer, ich habe keine Geografie, ich habe ein Zimmer. Selbst als Kind lebte ich schon gerne mit vier Wänden um mich herum, damit ich niemanden sehen oder hören kann. [lacht]
Car: Sie verbinden den Ort, an dem Sie aufgewachsen sind, also hauptsächlich mit Innenräumen?
Vrkljan: Ja, weil ich ohnehin viel von hier nach da gereist bin und nie meine eigene geografische Landschaft hatte. Als Kind war ich immer in der Stadt, fuhr Fahrrad oder lief Rollschuh, so lange das noch möglich war. Das war 1937, dazu muss ich Ihnen nichts weiter sagen. [lacht]
Car: Haben Sie etwas aus Ihrer Kindheit, das Sie immer noch besitzen?
Vrkljan: Ja, ich habe noch einige Briefe aus meiner Kindheit, denn ich hatte einen sehr guten Freund, Miron Flašar aus Belgrad, der später an der Universität Belgrad mein Griechischprofessor war. Als wir nach der Bombardierung Belgrads am 6. April nach Zagreb zogen, schrieb er mir noch von 1941 bis 1944. Ich habe diese Briefe immer gerne gelesen, ich muss immer noch ungefähr hundert von ihnen haben, ich habe nie wirklich gezählt, wie viele es sind.
Car: Hatten Sie als Kind ein Lieblingsbuch? Lässt sich so etwas in einer so prägenden Lebensphase überhaupt sagen?
Vrkljan: Ich muss sagen, dass ich damals Heine liebte, also seine Gedichte. Ich habe sie immer noch hier. Ich hasste das Buch Struwwelpeter [Kinderbuch des deutschen Autors Heinrich Hoffmann, Anm. d. Red.]. Ich hatte das nicht von meinen Eltern bekommen, ich weiß nicht, von wem ich das hatte. Nein, ich war nur an Lyrik interessiert. Der Gedichtband von Heine.
Car: Wer war für Ihr großes Interesse an Kultur und Literatur verantwortlich? Vermutlich Ihre Eltern?
Vrkljan: Ja, weil sie mir als Kind vorlasen. Papa las mir Morgenstern vor, alle seine Gedichte. Meine Mutter stammte aus Wien, sie kam mit 27 aus Wien nach Belgrad und lernte dort meinen Vater kennen. Ich war also unmittelbar umgeben von drei Ländern – Österreich, Deutschland und Kroatien. Ich lebte nicht nur in einer Welt, sondern tatsächlich in einer europäischen Welt.
Car: Haben Sie mit Ihren Eltern oder Großeltern über den Krieg gesprochen?
Vrkljan: Nein, nein. Mein Vater sagte immer „nicht vor dem Kind“, und so erfuhr ich erst nach dem Krieg mehr über den Krieg und ganz allgemein über die Zeit, in der ich lebte. Als Kind wusste ich gar nichts ... Später las ich Bücher, über die Judenverfolgung, über den Holocaust, das war alles viel später. Mir wurde erst später klar, was passiert war und wie mein Leben vor dem Krieg und im Krieg aussah. Ich erfuhr erst später von der Zahl der Ermordeten und von Jasenovac [Das Konzentrationslager Jasenovac war das größte Vernichtungslager im sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien, einem Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschlands und des faschistischen Italiens, Anm. d. Red.]. Mein Großvater, der Vater meiner Mutter, versteckte den gesamten Krieg über eine jüdische Frau, das erfuhr ich erst nach dem Krieg.
Car: Sagen Sie, Europa – existierte das für Sie als Kind?
Vrkljan: Nein. Genauso, wie es kein Jugoslawien gab, gab es auch in dieser Hinsicht nichts. Meine Eltern hatten mich bis zu einem gewissen Grad in Watte gepackt.
Car: Wenn es um ein Gefühl der Zugehörigkeit geht, was ist für Sie Heimat, wo fühlen Sie sich am meisten zuhause?
Vrkljan: Wissen Sie, Heimat wäre für mich wiederum mein Zimmer, meine Bücher, meine Pflanzen, Fotos von meinen Freunden an den Wänden. Tatsächlich habe ich nur dieses Zimmer. Und das hat sich nicht geändert. Ich lebe ja jetzt auch hier.
Car: Ja, natürlich. Gerade jetzt, wo wir alle in unsere Wohnungen eingesperrt sind.
Vrkljan: Ja, wenn wir eingesperrt sind, fühle ich mich zu Hause. Das einzige, was ich vermisse, ist spazieren zu gehen. Ich gehe im Zimmer herum, aber das ist nicht dasselbe.
Car: Da unsere Zuhörer das wahrscheinlich nicht wissen: Erzählen Sie mir doch von den Gelegenheiten in Ihrem Leben, an denen Sie Ihr Zuhause verlassen mussten.
Vrkljan: Wir mussten Belgrad 1941 verlassen, nach der Bombardierung am 6. April, denn damals wurden meine Schwestern geboren. Sie sind Zwillinge, 1940 geboren, zehn Jahre jünger als ich. Wir saßen als Flüchtlinge im Zug nach Zagreb, als es einen erneuten Luftangriff gab, eine Stuka [deutscher Sturzkampfbomber Junkers Ju 87, Anm. d. Red.] über uns, und wir rannten alle aus dem Zug und legten uns an den Damm neben den Gleisen. Und als wir endlich aufstanden, dachte ich, dass manche Leute einfach nur weiterhin dalagen, ich verstand nicht alles, was vor sich ging. Als wir nach Zagreb kamen, wo wir bei Verwandten meines Vaters wohnten, hatte ich schreckliche Angst vor Geräuschen, bei jedem lauten Geräusch, wie etwa einer schlagenden Tür, rannte ich los und versteckte mich unter dem Tisch.
Car: Sie haben in mehreren Ländern gelebt; Sie haben in mehreren Sprachen gelebt. Welche Sprache ist für Sie die Ihre, die Sprache der Heimat?
Vrkljan: Nun, ich habe zwei Sprachen [lacht], weil ich zwei Muttersprachen gleichzeitig hatte. Als Kind sprachen alle Deutsch mit mir, und dann ging ich in Belgrad auf eine serbisch-deutsche Schule. Ich hatte also immer diese beiden Sprachen und las Bücher und alles andere immer sowohl in unserer Sprache als auch auf Deutsch.
Car: Ich verstehe. Aber sagen Sie: Ist Europa Ihre Heimat, der Ort, zu dem Sie gehören?
Vrkljan: Absolut. In meinem Fall gehört zu meiner Vorstellung davon mehr als nur Zagreb oder Berlin. Ich bin mit Benno [Meyer-Wehlack, deutscher Schriftsteller, mit dem Vrkljan bis zu seinem Tod 2014 verheiratet war, Anm. d. Red.] durch Frankreich gereist und mochte es sehr.
Car: Welche Stadt würden Sie als Zuhause wählen, Zagreb oder Berlin?
Vrkljan: Nun, deshalb habe ich Berlin verlassen – weil ich das Gefühl hatte, dass es nicht gut für mich war. Ich schrieb unter dem Namen Irena Vrkljan und die Leute konnten meinen Nachnamen noch nicht mal aussprechen, deshalb riet mir der Verlag, meinen Nachnamen zu ändern, was ich aber nicht wollte. Ich stammte aus Kroatien, oder damals Jugoslawien, und das würde sich nicht ändern. Und ich denke, das ist es, was wirklich wichtig ist, nicht die Sehnsucht nach einer Heimat, sondern nach einer Sprache. Sprache ist auch eine Art Heimat, nicht wahr?
Ich stammte aus Kroatien, oder damals Jugoslawien, und das würde sich nicht ändern.
Irena Vrkljan
Vrkljan: Meine Ausbildung war hauptsächlich literarisch. Ich fing um 1960 an, im Fernsehen zu arbeiten. Davor arbeitete ich bei einem Radiosender, wo man mir sagte, nur Nachrichten machen sei nicht genug für mich, ich müsse ins Fernsehen, zum Film. Und dann drehten wir Porträts und Begegnungen, Filme über Maler, über Künstler und Schriftsteller. Bis 1967 hatte ich etwa 60 Filme gemacht, und dann schickte mir ein Freund, ein Journalist, Formulare für die Bewerbung an der Film- und Fernsehakademie. Also fuhr ich nach Berlin, um die Aufnahmeprüfung zu machen. Ich bestand, fühlte mich dort aber sehr fremd. Hätte ich meinen Mann Benno nicht getroffen, der Dramaturg und Professor an der Akademie war, wäre ich nicht in Berlin geblieben, sondern nach Zagreb zurückgegangen.
Car: Inwiefern haben die Geschichte und große politische Ereignisse Ihre Lebenspläne beeinflusst?
Vrkljan: Ich kann nicht sagen, dass sie das hätten. Was aber dann? 60 Filme zu machen hatte einen Einfluss auf mich, ich sagte mir, dass ich es einfach nicht mehr aushielt, mir Drehbücher auszudenken. Ich war erschöpft und brauchte ein anderes Umfeld, also bewarb ich mich an der Akademie und ging nach Berlin.
Car: Erinnern Sie sich daran, dass Sie auf dem Weg europäische Grenzen überquerten?
Vrkljan: Wir hatten Pässe. Sobald ich in Berlin eintraf, bekam ich eine Aufenthaltsgenehmigung, weil ich an der Akademie studierte. Später musste ich meinen Nachnamen in Meyer-Wehlack ändern, weil ich nur diese Genehmigung hatte und diese auf der Polizeidienststelle verlängert werden musste. Man musste dort immer sehr lange warten, es war schrecklich, zusammen mit allen anderen, die ebenfalls ihre Genehmigung verlängern wollten. Es war eine Polizeidienststelle, die auf Ausländer spezialisiert war, und nach der Hochzeit sagte mir einer der Beamten, ich solle den Nachnamen Meyer-Wehlack annehmen und würde dann eine Daueraufenthaltsgenehmigung bekommen. Das stellte sich als zutreffend heraus.
Car: Gab es einen Moment, in dem Sie während Ihrer Zeit in Berlin von Ihrer Umgebung genervt waren?
Vrkljan: Außer mit Benno und unseren Leuten an der Akademie fühlte ich mich damals, 1976, sehr seltsam. Es gab Studentenaufstände und sie betrachteten uns, die wir aus Jugoslawien stammten, als Verräter. Sie waren keine Stalinisten und betrachteten Jugoslawien als stalinistisch und schikanierten mich, deshalb fühlte ich mich unwohl.
Car: Fühlten Sie sich in Berlin als europäische Bürgerin?
Vrkljan: Ja, das tat ich, sowohl als kroatische als auch als europäische Bürgerin.
Car: Berührte Sie der Moment, in dem Kroatien der EU beitrat?
Vrkljan: Nein, ich war sehr froh. Wir sind immer noch nicht Teil des Schengen-Raums, aber wir sind Teil der EU. Wir haben derzeit die EU-Ratspräsidentschaft inne, Plenković macht seine Sache gut. [Kroatien hatte die EU-Ratspräsidentschaft vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2020 inne, Anm. d. Red.].
Car: Sie haben viele Jahre in der EU verbracht und sind jetzt Seniorin. Wie ist es, in der EU Seniorin zu sein? Gibt Ihnen das ein Gefühl der Sicherheit oder lässt sich das schwer sagen?
Vrkljan: Das kann ich nicht wirklich sagen, ich glaube, das trifft auf mich nicht zu. Was mich berührt, ist das, was in Kroatien passiert. Ich weiß, dass es uns wirtschaftlich nicht gut geht, aber mit dem Coronavirus geht es jetzt niemandem mehr gut. Das ist ein schwerer Schlag, mit dem niemand gerechnet hat, niemand wusste überhaupt, dass das passieren würde. Das ist ein großes, ein massives Problem für Europa und für die Solidarität.
Car: Haben Sie als Europäerin jemals Stolz oder Scham wegen Europa verspürt?
Vrkljan: Nein, ich habe mich nie geschämt. Und ich habe keine Ahnung, was Stolz ist. Aber ich habe mich nie geschämt, nein. [...] In jedem Fall muss Europa dafür sorgen, dass alle Länder demokratisch bleiben. Man muss das Recht auf seine eigene Meinung haben, Journalisten müssen frei und kritisch schreiben können.
Car: Welche europäischen Länder haben Sie noch nie besucht?
Vrkljan: England. Und ich wollte da immer hin, wegen Virginia Woolf, um Monk’s House zu sehen [lacht] und ihren Garten. Nachdem sie sich das Leben genommen hatte, pflanzte ihr Mann Leonard Rosen, und alle sagen, dass es ein wunderbarer Garten ist. Ich wollte ihn immer sehen, ihren Garten, aber ich habe es nie geschafft, England zu besuchen. Ich habe ein Buch darüber geschrieben. Und ich würde gerne die Tate Gallery sehen, weil sich dort mein Rothko befindet, der Maler, den ich verehre.
Car: Haben Sie irgendeine Botschaft für zukünftige Generationen in Europa?
Vrkljan: Toleranz. Das ist etwas, was mir sehr wichtig wäre.