Berlinale 2021
Die Horrorkomödie „The Scary of Sixty-First“

„The Scary of Sixty-First“ von Dasha Nekrasova mit Dasha Nekrasova und Madeline Quinn
„The Scary of Sixty-First“ von Dasha Nekrasova mit Dasha Nekrasova und Madeline Quinn | © Stag Pictures

Bei den „Encounters“ des Berliner Filmfestivals, einer erst im letzten Jahr entstandenen Sektion, stößt man auf eine Vielzahl erstaunlicher Filme. Wir stellen euch den wildesten von allen vor, einen US-amerikanischen Beitrag (mit belorussischen Wurzeln!): „The Scary of Sixty-First“.

Von Egor Moskvitin

„The Scary of Sixty-First“ ist das Regie-Debüt von Dasha Nekrasova, einer US-Amerikanerin mit belorussischen Wurzeln, die gleichzeitig eine der Moderator*innen des beliebten Podcasts „Red Scare“ und Darstellerin in der Serie „Succession“ ist. In ihrem eigenen Film hat sie ebenfalls einen Auftritt: in der eindrucksvollen Rolle einer jungen Journalistin, die von Verschwörungstheorien besessen ist. In den Hauptrollen ist der Film mit Betsey Brown und Madeline Quinn besetzt – noch wenig bekannten, aber unglaublich authentischen Schauspielerinnen, die man sich leicht in einer Serie wie „Girls” oder „Fleabag“ vorstellen kann. Die Hauptfiguren des Films sind zwei junge Bewohnerinnen eines Apartments in Manhattan. Dieses hat früher einmal Jeffrey Epstein gehört – einem Milliardär, der 2019 im Gefängnis Selbstmord begangen hat. Wer Epstein war, kann man der spektakulären Doku-Serie „Jeffrey Epstein: Filthy Rich“ auf Netflix entnehmen. Die Kurzfassung: der Finanzier war wegen der Prostitution Minderjähriger und sexuellen Missbrauchs angeklagt. Aber kehren wir aus der Realität zurück in die fiktive Geschichte, die in Manhattan spielt. Als sie herausfinden, dass in ihrer Wohnung mit großer Wahrscheinlichkeit Kinder missbraucht wurden, fangen die Protagonistinnen an, den Verstand zu verliehen. Die eine bekommt Alpträume, und zwar so lange, bis sie anfängt, im Schlaf durch die Stadt zu rennen, mit fremder Stimme zu sprechen und die seltsamsten Masturbationsszenen der gesamten Filmgeschichte hinzulegen. Die zweite distanziert sich von ihrer Freundin und kommt der bereits genannten Journalistin näher, welche wiederum überzeugte Anhängerin von Verschwörungstheorien ist. Die jungen Frauen beginnen, die Verbrechen Epsteins und die Umstände seines Todes zu untersuchen – und finden sich in einer ebenso prekären Situation wieder wie Tom Cruise im Film „Eyes Wide Shut“.

In seiner Form ist „The Scary of Sixty-First“ eine Mischung aus paranoiden Thrillern der 1970-er Jahre, satanischer Zusammenkünfte aus Streifen von Roman Polandski, italienischer Horrorfilme im Stil von „Giallo“ und US-amerikanischer Melodramen à la Mumblecore. Es ist sehr leicht, sich in diesen Termini zu verlieren – beschreiben wir sie also anhand von Beispielen. Wenn die süßen, aber charakterschwachen Figuren ständig etwas vor sich hinmurmeln und wir diesem endlosen Geblubber mehr entnehmen können als ihren Handlungen, ist es Mumblecore. Wenn die Mädchen Blutflecken auf den Matratzen, vor Maden wimmelndes Essen im Kühlschrank und Ratten sehen, ist das Giallo. Und wenn sich die Kameraführung so verhält, als ob die gesamte Stadt danach lechzen würde, die Protagonistinnen für ihre unautorisierten Gedankenexperimente zu bestrafen, ist es ein paranoider Thriller; ein Genre, das in den USA nach der Hippie-Revolution Ende der 1960-er Jahre und Watergate zu Beginn der 1970-er Jahre eine kurze Blütezeit hatte. Jetzt beginnt man sich dieser Stilistik erneut zuzuwenden – etwa im in Cannes gezeigten „Blackkklansman“ und in Venedig vorgestellten „Jean Seberg – Against all Enemies”. Wie die Zeiten, so die Genres.

«Страшно на 61-й», режиссёр Даша Некрасова, в главной роли Бетси Браун
«Страшно на 61-й», режиссёр Даша Некрасова, в главной роли Бетси Браун | © Stag Pictures

Auf der Ideenebene ruft „The Scary of Sixty-First“ nichts anderes als Begeisterung hervor. Der Film fixiert zwar ironisch, aber auch voller Mitgefühl den Geisteszustand amerikanischer Frauen, die sich vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte sicher und in der Lage fühlen, den Status Quo ihres Landes zu stürzen. Doch anstelle dessen, dass sie sich ihrer Kräfte bewusst werden, tritt die Angst, dass all die positiven Veränderungen nur eine vorübergehende Verblendung sein könnten. Erst recht, wenn die Heilung der Nation mit dem Aufreißen alter Wunden einhergeht – und der Eiter aus früher unbekannten oder totgeschwiegenen Geschichten wie denen von Epstein und Weinstein eine richtiggehende Übelkeit hervorruft. Schließlich parodiert der Film auch noch scharfsinnig die QAnon-Bewegung, die ihrerseits so schnell an Beliebtheit gewann, dass einem das Lachen vergeht. Die Mitglieder dieser Internet-Gruppierung glauben, dass die USA von Satanismus und Pädophilie regiert werden. Das wäre für sich genommen schon schlimm genug, doch leider beschränken sich die Aktivist*innen nicht auf Memes in sozialen Netzwerken – so haben viele von ihnen beispielsweise am Sturm auf das Kapitol im Januar teilgenommen.

Umgesetzt wird das grandiose Konzept des Films – vorsichtig ausgedrückt – nur mit Mühen. Dasha Nekrasova hat weder ein ausreichendes Budget noch die erforderliche Praxis in der Regiearbeit, um das Publikum richtig zu erschrecken; daher gehen Cleverness und Patzer Hand in Hand. Und in seinen schlechtesten Momenten (davon gibt es sehr viele) wird der Film zu einem ähnlich beschämenden Spektakel wie das legendäre „The Room“ von Tommy Wiseau: ein Streifen, der so schlecht geworden ist, das Film-Fans ihn voller Ehrlichkeit in ihr Herz geschlossen haben. Auch bei „The Scary of Sixty-First“ greift dieses Paradoxon: je mehr Pannen Filmschaffende einstecken müssen, desto stärker fiebert man mit ihnen mit. Sowohl Dasha Nekrasova als auch ihren Mitstreiter*innen steht mit Sicherheit eine große Zukunft im Filmgeschäft bevor – und wir haben genau jetzt die Chance, uns in eine Verschwörung hineinzuversetzen, dank derer dieser Erfolg schlussendlich zustande kommt.

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