Berlinale-Blogger*innen 2022
„Unrueh“ – Ein Schweizer Film über Uhrmacherei, Anarchismus und Liebe

Clara Gostynski, Alexei Evstratov im Film „Unrueh“
Clara Gostynski, Alexei Evstratov im Film „Unrueh“ | Photo (Ausschnitt) © Seeland Filmproduktion

In der Sektion „Encounters“ wurde auf dem Berliner Filmfestival „Unrueh“ gezeigt – ein faszinierender Schweizer Film über Uhrmacherei, Kartographie, Anarchismus und Liebe als das Rad der Geschichte. Es gelingt diesem erstaunlichen Film, für sein Publikum die Zeit anzuhalten. Wenn auch nur für dreiundneunzig Minuten.
 

Von Egor Moskvitin

Im Jahr 1877 existierte die Schweiz gleich in mehreren Zeitrechnungen: die Uhren in den Fabriken liefen anders als die in den Kirchen und auf Verwaltungsebene. Dieser verwunderliche Zustand pedantischer Anarchie lockte den russischen Kartografen Pjotr Kropotkin (gespielt von Aleksei Evstratov) ins Land – später bekannter Revolutionär, vorerst aber nur ein sanfter Jüngling mit neugierigem Blick. Unter den Arbeiter*innen, die in einer kleinstädtischen Fabrik Uhrmechanismen zusammensetzen, bemerkt er sofort die ernste und konzentrierte Josephine (gespielt von Clara Gostynski), ein Mädchen, das wirkt, als sei es aus der Zukunft ins 19. Jahrhundert geflogen worden. In einem Film, in dem die Zeit je nach Belieben eingestellt werden kann, scheint so etwas ja durchaus möglich.
 

Clara Gostynski im Film „Unrueh“
© Seeland Filmproduktion
Vor genau zehn Jahren verführte der deutsche Autor Florian Illies die ganze Welt mit seinem Buch „1913: Der Sommer des Jahrhunderts“ – einem ironischen und zauberhaften, gleichzeitig dokumentarischen Portrait des noch friedlichen Europas. Grundlage der Erzählung waren zwei Tagebücher der schillerndsten Figuren dieser Zeit, Sigmund Freud und Rosa Luxemburg. Das Anekdotenhafte ihres Alltags, die Offensichtlichkeit psychologischer Komplexe so bedeutender Menschen und Details aus ihrem Privatleben – all das erheiterte nicht nur die Leserschaft, sondern demokratisierte auch die Geschichte Europas insofern, dass Bürgertum und Bohème näher zusammenrückten. Und die Geschichte blieb – ungeachtet der Entwicklung hin zum Ersten Weltkrieg – dennoch ein fröhliches, familiäres Ereignis.

Genau diesen Eindruck hinterlassen auch drei Filme, die in den letzten drei Jahren Gäste der Berlinale waren. 2020 wurde „First Cow“ von Kelly Reichardt gezeigt – ein verspieltes Märchen über die Geburt der US-amerikanischen Nation nicht etwa als Resultat von Überlebenskampf und Unabhängigkeitskrieg, sondern als eine Folge… des Handels mit Süßigkeiten und Essen aus verschiedenen Kontinenten. Die Umsiedler*innen tischten einander ihre Nationalgerichte auf, prahlten mit ihren Gewürzen, tauschten untereinander Rezepte und wuchsen zu einem neuen Volk zusammen. 2021 war, ebenfalls auf der Berlinale, „Blutsauger“ von Julian Radlmaier zu sehen – eine Komödie, die anhand von Vampiren marxistische Ideen nachzeichnet. Dieses zarte Märchen konservierte die Nostalgie für das Alte Europa ebenso wie der Film „Grand Budapest Hotel“, dessen Premiere – ein Zufall? – ebenfalls in Berlin stattfand.

 
Szene aus Cyril Schäublins Film „Unrueh“
Szene aus Cyril Schäublins Film „Unrueh“ | Photo (Ausschnitt) © Seeland Filmproduktion

Auf die nächste Zeitreise begibt sich nun der Film „Unrueh“ von Cyril Schäublin, einem Schweizer Regisseur, der die bekannte Film- und Fernsehakademie in Berlin absolviert hat. Sein dortiger Lehrmeister war Lav Diaz, ein philippinischer Regisseur, der in seinen Filmen, die nur selten kürzer als vier Stunden lang sind, oftmals die Zeitläufte aus dem Blick verliert. Vielleicht hat sein Film auch deshalb einen so seltsamen Effekt: einerseits bleibt die Zeit darin stehen, doch andererseits hört man durchgehend das Geräusch von Uhrmechanismen. Der Herzschlag der Geschichte kommt in diesem einfühlsamen Streifen aus dem Inneren von Maschinen: aus den ersten Uhren, massiven Fotoapparaten und Telegrafen.

Es ist ein fast ereignisfreies Filmflüstern, einerseits einschläfernd in seiner warmen Zärtlichkeit und andererseits mit dem Auftrag einer fieberhaften Suche nach dem Sinn. Ein Sujet als solches gibt es nicht, weshalb man den Eindruck hat, dass der Autor über das sagenumwobene Ende der Geschichte nachdenkt. Pjotr und Josephine ringen sich erst gegen Ende des Films dazu durch, einander anzusprechen, doch das Publikum realisiert, dass aus ihrer Liebe auch das ganze 20. Jahrhundert entspringen wird. Uhrmechanismen und anarchistische Ideale scheinen auf einmal verwandte Seelen zu sein, und ein Mann und eine Frau aus verschiedenen Welten verlieren sich urplötzlich im Wald und überlassen revolutionäre Kämpfe und bürokratische Plackereien den anderen.

Zusammengefasst: der Film ist zugegebenermaßen rätselhaft, aber überaus zart und einfühlsam!


 

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