Thomas Hettche: Urmelis Traumata

„Herzfaden“ von Thomas Hettche
© Kira Chernova / Goethe-Institut

Thomas Hettche erzählt in „Herzfaden“ die Geschichte der Augsburger Puppenkiste als Mentalitätsporträt der Bundesrepublik.

Von Christoph Schröder

Eine Marionette, so erklärt es Walter Oehmichen eines Tages seinen beiden Töchtern, sei weit mehr als nur ein bewegliches, bekleidetes Stück Holz. Und auch sei es niemals klar, wer von beiden, der Puppenspieler oder die Puppe selbst, eigentlich die Kontrolle über das Spiel habe. Der wichtigste Faden einer Marionette sei der Herzfaden, fährt der Vater fort, er „macht uns glauben, sie sei lebendig, denn er ist am Herzen der Zuschauer festgemacht“. Noch denken die beiden Mädchen, der Vater mache einen Scherz mit ihnen, doch bald wird zumindest die Jüngere von ihnen, Hannelore, ebenfalls überzeugt davon sein, dass die Marionette, der sie an ihren Fäden führende Spieler und das Publikum sich im Idealfall wechselseitig beseelen können.

Mit den Geschichten und der Ästhetik der Augsburger Puppenkiste sind bis in die Gegenwart hinein ganze Generationen von Westdeutschen sozialisiert worden. Dass Thomas Hettche mit Herzfaden nun einen Roman der Augsburger Puppenkiste, so der Untertitel, vorgelegt hat, ist oberflächlich betrachtet richtig, doch ist es nur die halbe Wahrheit. Hettches Buch krallt sich unter der dezent nostalgisch angehauchten Leseoberfläche tief in den Urgrund der alten Bundesrepublik, deren beschwingte Anfangsheiterkeit und Sehnsucht nach leichter Unterhaltung sich als Gegenbewegung zu den traumatischen Erfahrungen der Kriegsgeneration deuten lässt. Regina Schillings 2018 ausgestrahlter Dokumentarfilm Kulenkampffs Schuhe war diesbezüglich bereits ein Augenöffner. Es ist gewiss kein Zufall, dass sowohl Schilling als auch Hettche denselben, auf die Generation der jung indoktrinierten Deutschen gemünzten Hitler-Satz zitieren: „Und sie werden nicht mehr frei sein ihr ganzes Leben“. Schilling lässt zu diesem Satz Hans-Joachim Kulenkampff nach seiner letzten Fernsehsendung in die Dunkelheit der Kulissen abtreten. Bei Hettche erscheint er Hannelore Oehmichen wie die Verwünschungsformel einer bösen Märchenhexe.

Mit dunklen Motiven spielt der Roman permanent. Auf der Handlungsebene erzählt Hettche die Biografie der Familie Oehmichen über rund zwei Jahrzehnte hinweg, angefangen an jenem Tag, an dem Walter Oehmichen, Oberspielleiter des Augsburger Stadttheaters, im Herbst 1939 seinen Einberufungsbefehl zur Wehrmacht erhält, bis in die frühen 1960er Jahre hinein, als Hannelore, genannt Hatü, das Puppentheater bereits vom Vater übernommen hat und mit Jim Knopf und Lukas, der Lokomotivführer die erste große Fernsehproduktion vorbereitet.

Auf einer zweiten, im Druckbild auch farblich abgesetzten Erzählebene gerät ein junges Mädchen in der Gegenwart nach dem Besuch einer Vorstellung der Augsburger Puppenkiste aus Versehen durch eine versteckte Tür im Foyer mitten in die Welt der ein Eigenleben führenden Marionettenfiguren, zwischen das Urmeli, den kleinen König Kalle Wirsch und Prinzessin Li Si. Und auch die 2003 verstorbene Hatü ersteht in diesem Zwischenreich noch einmal von den Toten auf, um dem Mädchen ihre Geschichte zu erzählen. Eine vertrackte Konstruktion, die Thomas Hettche ohne mechanisches Knirschen und mit großer Eleganz zu einem zugleich so unterhaltsamen wie auch beunruhigenden Roman zusammengefügt hat. Die Ambivalenzen sind stets gegenwärtig.

Walter Oehmichen wird 1945 aus der Kriegsgefangenschaft entlassen und baut im ein Jahr zuvor zerstörten Augsburg sein Marionettentheater auf. Manche bespötteln die Augsburger Puppenkiste als Kinderkram, andere wiederum konstatieren, dass das neue Land auch neue Geschichten brauche. Und Oehmichen selbst erklärt, dass Marionetten die ehrlichsten, weil unverführbarsten Schauspieler überhaupt seien. Die Puppen, die Walter und bald darauf auch seine darin hochbegabte Tochter Hatü schnitzen – die Mutter näht die Kostüme –, haben Trost- und Heilungsfunktion zugleich. Das Fluidum der Nachkriegszeit wird in Herzfaden anschaulich: in Szenen von abendlichen Empfängen, in denen stramme Altnazis das große Wort führen; in den Diskussionen der jungen Menschen um Hatü und ihre Schwester Ulla über die Verdrängungsmechanismen der Aufbaugeneration. Und immer wieder inszeniert Hettche das Unheimliche historischer Kontinuitäten. Die Kasperfigur, die Hatü als Kind selbst geschnitzt hat und die ihr dennoch Angst macht, ähnelt, das bemerkt sie erst als Erwachsene, der bösartigen nationalsozialistischen Karikatur eines Juden. Und die leeren Jackenärmel und Hosenbeine der aus dem Krieg versehrt heimgekehrten jungen Männer sind eine Anspielung auf Kleists Essay Über das Marionettentheater, in dem von den mechanischen Gliedmaßen als Ersatz für verlorene Körperteile die Rede ist.

Die belebte Puppe als schauerromantisches Motiv spiegelt Hettche in der kollektiven Mentalität eines Volkes, das seine Täterschaft buchstäblich zu überspielen versucht. Zugleich aber löst der Roman die bereits Allgemeingut gewordenen Motive von Trauma und Verdrängung in der Schilderung konkreter Lebenssituationen auf. „Wir müssen“, sagt Walter Oehmichen, „die Herzen der Jugend erreichen, die von den Nazis verdorben wurden. Und die Fäden, mit der wir sie wieder an die Kultur anknüpfen, das sind die Fäden meiner Marionetten“.

Das ist der Motor, der Herzfaden antreibt: der Versuch, eine Illusionswelt zu schaffen, die sich ihrer Verankerung in den historischen Zwängen bewusst ist.

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