Postkoloniale Theorie
Grenze ohne Grenzen

Grenze ohne Grenzen
© Elena Istschenko

Waleri Ledenjow über das Ausstellungsprojekt des Goethe-Instituts, kuratiert von Inke Arns und Thibaut de Ruyter, an dem junge Künstler aus 16 Städten in elf Ländern Europas und Asiens teilnehmen. Die Ausstellung wurde vom 1. bis 26. Februar 2017 in Moskau gezeigt und ist anschließend in Sankt Petersburg, Krasnojarsk, Kiew, Tiflis, Minsk und Dortmund zu sehen. 2018 wird sie ihre Reise in Zentralasien fortsetzen.

Mitunter werden Themen von Ausstellungen so formuliert, als würde es gar kein Thema geben. Dafür braucht man nicht unbedingt verschwommene Formulierungen, wie man sie von internationalen und regionalen Biennalen kennt. Das Thema „Die Grenze“ – der Titel eines internationalen Ausstellungsprojekts, das vom Goethe-Institut in Moskau organisiert wird, droht sich ebenfalls in einer Wolke aus Variationen und Auslegungen eines – so sollte man meinen – an Inhalten reichen Begriffs aufzulösen, wenn man die Resonanz bedenkt, auf die dieses Problem heute in der Welt stößt.

Die Grenze, um die es in der Ausstellung geht, ist in erster Linie eine Grenze zwischen Ost und West – Begriffe, die seit den Zeiten von Edward Said und Samuel Huntington weniger geografisch, als vielmehr politisch und ideologisch verstanden werden. Im konkreteren Sinne ist damit die Grenze gemeint, die zwischen Europa und all jenem verläuft, das aus unterschiedlichen Gründen nicht dazugehört, dahin strebt oder nicht zugehörig sein möchte. In diesem Sinne exemplarisch ist die Arbeit von Stanisław Mucha. Der polnisch-deutsche Künstler hat einen Dokumentarfilm über eine Region gedreht, in der vermutlich „Die Mitte“ liegt (das gleichnamige Video ist 2004 entstanden). Eine Vielzahl von Städten in einem Umkreis von ca. 2000 km von Deutschland bis zur Ukraine erhebt Anspruch darauf, für den europäischen Teil des Kontinents die „Mitte“ zu sein. Aber das Leben an diesen Orten ist grundverschieden und die Vorstellungen sowohl von dem Geschehen außerhalb ihrer Grenzen als auch von Europa insgesamt könnten unterschiedlicher nicht sein. Ein Sinn- bzw. Bedeutungszentrum erweist sich als genauso unerreichbar wie die geografische Mitte.

Wenn es ein Zentrum gibt, dann gibt es auch eine Peripherie, und folglich auch etwas, was sich außerhalb der Feldgrenze befindet. Die Grenze zu überwinden, stellt sich als schwierig heraus, nicht nur im physischen, sondern auch im soziokulturellen Sinne. Die Ukrainerin Alina Kopytsa musste bei ihrer Eheschließung mit einem Schweizer Bürger nachweisen, dass ihr Bund tatsächlich besteht. Die Eheleute haben den Behörden ihren elektronischen Briefwechsel vorlegen müssen, den sie während der fünf Jahre ihrer Bekanntschaft gepflegt haben. Mit Fragmenten davon wurde das Hochzeitskleid der Künstlerin verziert, das in der Ausstellung zu sehen ist.

Offensichtlich waren die Kuratoren eher an dem intimen, persönlichen Aspekt des Phänomens politischer Grenzen interessiert. Die Jekaterinburger Gruppe Where dogs run hat eine Arbeit über ihren Freund gezeigt, der sich nicht mit Frauen treffen konnte, wenn diese keine Narbe von der Pockenimpfung am Arm aufwiesen, wie sie ja bekanntlich nur auf der einen Seite der Grenze der UdSSR vorgenommen wurde. Viron Erol Vert hat eine Serie von muslimischen Kopfbedeckungen gezeigt, auf denen weiblichen Frisuren dargestellt sind. Der Kopf der jungen Frau, die so eine Frisur „anprobiert“, bleibt selbst dann, wenn die Zeichnung mit der Form und Farbe ihrer eigenen Haare übereinstimmt, „bedeckt“. Die Strenge der kulturellen Normative wird sogar in den Fällen, wo diese von der politischen Macht untermauert sind, von neuen Gegebenheiten und Ambitionen im Zeitalter der Globalisierung aufgeweicht. Aber der Blick auf die Grenze in der oben beschriebenen Art erscheint sehr subjektiv und persönlich. Wie vermeidet man in einer solchen Situation Willkür bei der Auslegung der kulturellen Grenzen? Wie kann man unvoreingenommen urteilen? Woher nimmt man die Fähigkeit, die eigenen Idiosynkrasien von den realen Problemen zu unterscheiden, mit denen die Menschen tagtäglich zu tun haben?

Die Realität kann man in der Sprache der Theorie oder des Affekts beschreiben, aber der Alltag nivelliert eine solche Dialektik. Vorstellungen, die die Menschen davon haben, wie es sich auf den verschiedenen Seiten der Grenzen lebt, müssen anhand der täglichen Gepflogenheiten verifiziert werden und diese bestätigen nicht immer die auseinandergehenden Vorstellungen. Der Alltag, dessen Erforschung sich einige Künstler der Ausstellung gewidmet haben, erwies sich auf beiden Seiten verschiedener Grenzen als zum Verwechseln ähnlich. In dem Film „Saloshnik wetschnosti“ („Geisel der Ewigkeit“) (2007) von Umida Ahmedova und Oleg Karpov fegt eine Putzfrau monoton eine ganz und gar unauffällige Straße. Aus der Bildunterschrift erfahren wir, dass das Video in Usbekistan gedreht wurde, und zwar auf der Straße, die der Präsident des Landes oft entlangfährt.

Alexander Ugay hat das Leben in Texas gefilmt, aber auch eine südliche Region Kasachstans, die umgangssprachlich genauso genannt wird wie der amerikanische Staat. Zwei an Erdölvorkommen reiche Gebiete an verschiedenen Enden des Planeten sind sich in der Trostlosigkeit ihres Daseins und der Ereignislosigkeit ihrer Existenz verblüffend ähnlich – zu sehen in dem Fotoprojekt „Wir sind aus Texas“ (2002–2005).

Saule Dyussenbina hat Tapeten mit Verzierungen nach Motiven traditioneller kasachischer und europäischer Ornamente hergestellt und dazu Ansichten des heutigen Astana nachgezeichnet, einer Metropole, die sich heutzutage kaum von vielen anderen Großstädten unterscheidet und durch die Bewegung kulturell-finanzieller Ströme mit diesen gleichgeschaltet wird. Die gegenseitige Durchdringung von westlichen und nichtwestlichen Kontexten wirkt nicht immer konfliktreich und dramatisch. Manchmal passen die Dinge zusammen oder werden im Alltag passend gemacht.

Bezeichnend ist der Kommentar einiger Autoren zu Grenzen, die in einem vermeintlich ganzheitlichen Universum in aller Stille präsent sind. Taus Makhatcheva, die traditionell ungewöhnliche Kommunikationssituationen herstellt, ist in Machatschkala heimlich auf fremde Hochzeiten gegangen, hat sich mit den Neuvermählten fotografieren lassen und sich dem fröhlichen Treiben angeschlossen. Von Dutzenden Fotos, die ihr Assistent, der Hochzeitsfotograf Schamil Gadshidadajew, gemacht hat, schaut die Künstlerin den Betrachter an, als wäre sie ein Fremdkörper, der dort hineinmontiert wurde. Wohl eine Provokation, gedanklich den eigenen unsichtbaren Grenzen nachzuspüren.

Interessant ist das Werk, das uns Katya Isaeva präsentiert hat, die für ihre Installation sowjetische Schalen gesammelt hat. Die ursprünglich aus Zentralasien kommenden und früher jedem Kind wohlbekannten Schalen tauchten im sowjetischen Alltag aus einem kulturellen Mix heraus auf, den es mit gewissen Einschränkungen auch in der UdSSR gab. Diese Melange zeigt sich zum Beispiel bei bestimmten Essgewohnheiten darin, dass bis zum heutigen Tag verschiedenste Lebensmittel und Gerichte ihren Platz im Alltag haben. Man nimmt das als etwas ganz Natürliches wahr, auch wenn die Beziehungen der Nationen untereinander im Vergleich zu Sowjetzeiten, gelinde gesagt, schwieriger geworden sind. Aber auch in der Union waren sie bei weitem nicht ungetrübt.

Subtile Bemerkungen und genaue Beobachtungen, Antworten und Ideen – all das wird dem Besucher von einer Ausstellung geboten, die weder einen einheitlichen Kern hat noch mit einer Stimme spricht und die ihr Thema „Grenze“ aus vielen Einzelbausteinen zusammensetzt. In Russland organisiert, aktiv um die Überwindung ihrer geopolitischen Identität ringend, ihre Grenzen übermalend und auf die Präsidentschaft von Donald Trump anspielend, der eine Mauer an der Grenze zur Mexiko errichtet und und die Angliederung der Krim gesetzeswidrig nennt, scheint sie glatt und problemlos zu sein.

Übrigens die Strategie der Exkommunikation, der Unwille, sich in den heimischen Kontext einzufügen, kann man auf eine bestimmte Art als radikal ansehen; solche Diskussionen hat es in der hiesigen Künstlerszene schon gegeben (1, 2). Die Abkehr vom „direkten Aufbruch zu offenen Horizonten“ zugunsten einer „autistischen Form der Organisation“, die Erfahrung der Einsamkeit, die eine Begegnung mit anderen ermöglicht.

Eine solche Möglichkeit der „Vergleichbarkeit“ mit der Außenwelt bietet die Ausstellung allenfalls über die einzelnen Projekte, die man in den verschiedenen Städten, in die die Ausstellung reist, unterschiedlich wahrnehmen wird. Wenn die Sachen von Olga Jitlina zum Thema Migration in Moskau verständlich sind, dann wird das Video des georgischen Kollektivs Khinkali Juice, das das Vortragen der Nationalhymne Georgiens zu einer heißen Performance macht, wahrscheinlich besser in Tiflis ankommen und andere Projekte wiederum in Minsk, Kiew oder Dortmund. Allerdings verwandeln sich die Arbeiten in anderen sozialpolitischen Kontexten praktisch in eine Abstraktion, die eine „Vergleichbarkeit“ ohne ein tiefes Verständnis der Situation vor Ort unmöglich macht.

IIn einem der Ausstellungssäle zieht die Neoninstallation von Sergey Shabohin die Aufmerksamkeit auf sich. Der aufleuchtende Schriftzug „We Stern Consumers Of Cultural Revolutions“ („Wir gestrengen Konsumenten kultureller Revolutionen“) verwandelt sich schnell in das ähnlich lautende Motto „Eastern Consumers Of Cultural Revolutions“ („Östliche Konsumenten kultureller Revolutionen“). Der Künstler erinnert an die Geschichte des weißrussischen Witebsk, das einst Zentrum der internationalen Avantgarde war. Die Stadt von Chagall und Malewitsch wird heute eher wenig mit deren Namen in Verbindung gebracht. Der Begriff „Avantgarde“ wie auch die ersten Arbeiten über die Avantgarde in Russland sind im Westen entstanden und damit auch die Sprache ihrer Beschreibung. Die Sprache, in der die Diskussion über das Problem der Grenzen geführt wird, hat ihren Ursprung ebenfalls in der westlichen akademischen Theorie. Und das ist vermutlich noch eine weitere Grenze, deren Vorhandensein reflektiert werden sollte.

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