Die Stimmen der Emigration
Russische Spuren in der deutschen Gegenwartsliteratur
Mit dem Beginn des 21. Jahrhunderts tauchten in der Literatur neue Stimmen aus dem postsowjetischen Raum auf. Sie alle sind in jungen Jahren nach Deutschland emigriert, sprechen akzentfrei Deutsch und thematisieren ihre – teils bittere, teils beglückende – Erfahrung der Emigration in ein anderes Land. Die Berliner Journalistin Dascha Suomi stellt fünf russischsprachige Autorinnen und Autoren vor, die zur Stimme der Emigranten aus den GUS-Ländern geworden sind.
Von Daria Suomi
olga Grjasnowa
![Olga Grjasnowa Olga Grjasnowa](/resources/files/jpg704/1-formatkey-jpg-w320m.jpg)
„Wenn ich mit meiner Mutter telefonierte, überkam mich manchmal die Sehnsucht nach einem Zuhause, ohne dass ich es hätte lokalisieren können. Wonach ich mich sehnte, war ein vertrauter Ort. Eigentlich hielt ich nichts von vertrauten Orten – der Begriff Heimat implizierte für mich stets den Pogrom. Wonach ich mich sehnte, waren vertraute Menschen, nur war der eine tot, und die anderen ertrug ich nicht mehr. Weil sie lebten.”
Olga Grjasnowa, Der Russe ist einer, der Birken liebt
Die Bücher von Olga Grjasnowa in der Bibliothek des Goethe-Instituts und in der Onleihe
alina Bronski
![Alina Bronsky Alina Bronsky](/resources/files/jpg704/2-formatkey-jpg-w320m.jpg)
„Manchmal denke ich, dass ich nie wieder neue Menschen kennenlernen will, weil ich es satt habe, jedem das Gleiche von vorn zu erklären. Warum ich Sascha heiße und wie lange ich schon in Deutschland lebe und warum ich so gut Deutsch kann, ungefähr elfmal besser als alle anderen Russlanddeutschen zusammen. Ich kann Deutsch, weil mein Kopf voll ist mit grauer Substanz, die wie eine Walnuss aussieht und makroskopisch viele Windungen hat, mikroskopisch dagegen eine stolze Menge Synapsen.“
Alina Bronski, ScherbenparkDie Bücher von Alina Bronski in der Bibliothek des Goethe-Instituts und in der Onleihe
Mitja Vachedin
![Mitja Vachedin Mitja Vachedin © . Mitja Vachedin](/resources/files/jpg704/5-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Sein Debut im Deutschen erfolgte 2017 mit dem Erscheinen des teils biografischen Buchs Engel sprechen Russisch, das 17 Erzählungen enthält: über seine Kindheit in der russischen Realität der 90er-Jahre und über Deutschland, wo er lebt, seitdem er 17 ist.
Vachedin lebt in Berlin, ist Fachredakteur für Prosa bei der russischsprachigen Literaturzeitschrift Berlin-Berega, in der Autorinnen und Autoren aus der russischsprachigen Emigranten-Szene publizieren, und schreibt für die Deutsche Welle und andere Medien.
„Wie Zahnpasta bestehe ich aus drei Schichten: zehn Jahre sowjetische Kindheit, zehn Jahre wilder russischer Kapitalismus, zehn Jahre Westdeutschland. Rot, blau, weiß – mein russisch-deutsches Zahnpastaleben.”
Mitja Vachedin, Engel sprechen RussischDer Roman Engel sprechen Russisch von Mitja Vachedin in der Bibliothek des Goethe-Instituts
Sasha Marianna Salzmann
![Sasha Marianna Salzmann Sasha Marianna Salzmann](/resources/files/jpg704/4-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Salzmann ist eher Dramaturgin als Autorin. Ihre Stücke wurden auf den Bühnen der großen Theater Deutschlands inszeniert, etwa am Bayerischen Staatsschauspiel und Deutschen Theater in Berlin. Für Theater hatte sie sich schon in Russland begeistert, aus dem ihre Eltern Mitte der 90er-Jahre als Kontingentflüchtlinge emigriert waren. Eine ihrer bekanntesten Arbeiten ist Muttersprache Mameloschn, ein Familienstück über drei Generationen einer jüdischen Familie.
Nachdem sie einige Jahre am Maxim-Gorki-Theater in Berlin gearbeitet hat, schrieb Salzmann 2017 ihr erstes Buch Außer sich. Es handelt von der jungen Frau Alice, die, nachdem sie mit ihren Eltern nach Deutschland ausreiste, ihren Platz in diesem neuen Land nicht finden kann und nach Istanbul reist, um ihren verloren gegangenen Bruder zu suchen. Der Roman wurde für die Shortlist des Deutschen Buchpreises nominiert.
„Immer wenn ich merke, dass es für Menschen eine Vorstellung von Welt gibt, auf die sie ohne Zweifel bauen, fühle ich mich allein. Ausgeliefert. Sie sprechen davon, Dinge mit Sicherheit zu wissen, sie erzählen, wie etwas gewesen ist oder sogar wie etwas sein wird, und ich merke dann immer, wie sehr ich nichts weiß von dem, was als Nächstes passieren könnte. Ich weiß ja noch nicht mal, als was ich angesprochen werde, wenn ich Zigaretten kaufen gehe – als ein er oder als eine sie?“.
Sasha Marianna Salzmann, Außer sich
Der Roman von Sasha Marianna Salzmann in der Bibliothek des Goethe-Instituts und in der Onleihe
Lena Gorelik
![Lena Gorelik Lena Gorelik](/resources/files/jpg704/3-formatkey-jpg-w320m.jpg)
Auf große Resonanz stieß 2012 ihr Buch Sie können aber gut Deutsch! über den Umgang der deutschen Gesellschaft mit Ausländerinnen und Ausländern. Es ist eine eigenwillige Antwort auf das Skandal-Buch des deutschen Politikers Thilo Sarrazin Deutschland schafft sich ab, in dem sich der Autor scharf gegen Immigration aussprach. Gorelik stellt dar, dass sich der Integrationsprozess von Ausländerinnen und Ausländern in die deutsche Gesellschaft ziemlich langwierig und mühsam gestaltet.
„Werde ich toleriert, wird hingenommen, eben ausgehalten, geduldet, dass ich da bin oder dass ich so bin, wie ich bin. Toleranz bedeutet noch nicht einmal Akzeptanz, Toleranz ist eine Haltung, die immer von oben herab kommt und einen in die Knie zwingt, erniedrigt: Ach schau mal, bin ich nicht nett, dass ich dich hier so, wie du bist, toleriere? Toleranz hat wenig mit Gleichberechtigung zu tun, auch wenig mit einem Miteinander.“
Lena Gorelik, Sie können aber gut Deutsch!Die Bücher von Lena Gorelik in der Bibliothek des Goethe-Instituts und in der Onleihe