Geschichte
6 deutsche Design-Entscheidungen, die das moderne Interieur beeinflusst haben
In Gesprächen über Interior Design verwenden oft auch Menschen, die sich in der Welt des Designs gar nicht so gut auskennen, Begriffe wie „Skandinavischer Stil“ oder „Provence“. Gleichzeitig hat vom deutschen Design kaum jemand schon einmal gehört, und das ist wirklich nicht angemessen: denn gerade Deutschland hat der Welt eine Vielzahl an Design-Entscheidungen beschert, von denen einige schon mehr als 150 Jahre lang in unveränderter Form produziert werden und von denen wir viele, ohne es zu wissen, bis heute verwenden. Rationalität, Langlebigkeit, Rentabilität, Schönheit und Ästhetik sind das Erfolgsrezept deutscher Designer*innen, die sowohl die Möbelindustrie als auch das industrielle Design revolutioniert haben.
Der „unkaputtbare“ Thonet
Die Stühle mit ihrer typischen Silhouette trifft man auch heute noch häufig im Innendesign an, und neben modernen Möbelstücken sehen sie äußerst originell aus. Man kann sie in der Vintage-Variante erwerben – die allerdings ein kleines Vermögen kostet – oder in Form einer günstigeren modernen Kopie.
„Wassily-Stuhl“ und „Barcelona-Sessel“
Mies van der Rohe entwickelte den „Barcelona“-Sessel als einen modernen Thron für den spanischen König Alfons XIII. Der König probierte den Sessel zwar nie aus, aber dafür bekam die Welt eine neue Ikone des Modernismus. Das Design des „Barcelona“ vereinte in sich das Beste des charakteristischen Stils van der Rohes, der stets um Einfachheit und Integrität bemüht war.
Das elegante Zusammenspiel von Kissen aus 148 Lederstückchen und Stahlbeinen, als deren Vorbild die Stützen altägyptischer Throne gedient hatten, machte den Sessel zu einem Luxus- und Statussymbol. In den 80 Jahren seiner Herstellung wurde an der Konstruktion nur eine einzige Veränderung vorgenommen: die herausnehmbaren Beine wurden später aus einem Guss angefertigt. Ansonsten sieht dieses auf das Jahr 1929 zurückgehende Produkt der Möbelkunst immer noch aktuell und modern aus und ist in unseren Zeiten nach wie vor beliebt.
Die „Frankfurter Küche“
Bis zu der ersten Frau, die in Österreich den Beruf der Architektin ergriff, hatte sich noch niemand ernsthaft mit der Planung von Küchen beschäftigt. In den damaligen Zeiten bestanden die Wohnungen in der Regel aus zwei Zimmern: der Küche und dem Paradesaal zum Empfang der Gäste. In der Küche spielte sich das gesamte Familienleben ab, denn sie war gleichzeitig auch Schlaf- und Badezimmer.
Die österreichische Architektin Margarete Schütte-Lihotzky verkörperte einen methodischen und rastlosen Forschergeist, der alles verändern sollte. 1926 wurde sie zur Teilnahme am Programm des neuen sozialen Wohnungsbaus „Neues Frankfurt“ eingeladen. Mit starker Hand und unter Einbeziehung von Ideen des „Scientific Management“ Frederick Taylors im Bereich praktischer Nutzen und Hygiene lagerte sie alle Prozesse, die nichts mit dem Kochen zu tun hatten, aus der Küche aus. Margarete minimierte auf präzise Art die Zeit, die die Bewegung zwischen den unterschiedlichen Küchenbereichen erforderte, und ersparte den Hausfrauen überflüssige Bewegungen. Sie plante maximal kompatible Bereiche für Stauraum, Abwaschen und Kochen: das Spülbecken etwa befand sich in unmittelbarer Nähe des Herds und der Hängeschränke. Hinzu kamen praktische, bewegliche Schubladen – „Schütten“ –, die zur Aufbewahrung loser Lebensmittel und als Messbecher dienten. Ein Tisch für die Verarbeitung von Lebensmitteln befand sich am Fenster, um eine verbesserte Durchlüftung zu gewährleisten. Damit die Kräfte der Hausfrau geschont wurden, gehörte zu diesem Tisch ein Drehstuhl. Heraus kam ein funktionaler Arbeitsplatz für die häusliche Chef-Köchin. Der Raum mit den Maßen von 1,9m х 3,4m optimierte alle in der Küche ablaufenden Prozesse erheblich und sparte Platz im kleinen Areal der städtischen Wohnung. Eine wichtige Neuerung war der Verzicht auf den Kohleofen – denn in der neuen Küche wurden Gas und Strom verwendet. Erstmals kam auch ein Dunstabzug zum Einsatz. Selbst das Material und das Licht der Küche wurden modernisiert: Eichenfässer für Graupen wehrten Schädlinge ab, und das Zusammenspiel von grauen und meeresblauen Farbtönen sollte Fliegen fernhalten.
Der zweite Weltkrieg bremste die Entwicklung des deutschen Designs für einige Jahre aus. Und zwar so sehr, dass im Jahr 1949 deutsche Hersteller*innen mit ihren unansehnlichen Produkten auf den Handels- und Industriemessen in den USA ein wahres Fiasko erlebten. Daher wurde 1953 auf eine Direktive des deutschen Bundestags hin der Rat für Formgebung einberufen. Deutschland revitalisierte die Design-Traditionen der 20-er Jahre und entwickelte sie Schritt für Schritt weiter.
Der „Schneewittchensarg“
Zu dieser Zeit ähnelte die Mehrheit der Abspielgeräte eher massiven Kleiderschränken: sie wurden aus Holz hergestellt und mit Ornamenten versehen. Die Designer Dieter Rams und Hans Gugelot, die mit der Entwicklung des SK 4 beschäftigt waren, konzentrierten sich jedoch auf das Gerät selbst und nicht auf ein überflüssiges Dekor. Das minimalistische Kompaktabspielgerät mit seinem weißen Korpus und einer innovativen durchsichtigen Abdeckung sorgte für wahre Furore. Der Erfolg des SK 4 alarmierte andere Firmen so sehr, dass die Konkurrenz im Versuch, die Popularität des neuen Modells zu schmälern, ihm den Spitznamen „Schneewittchen-Grab“ verpassten. Doch die Ironie des Schicksals wollte es anders: der Spitzname schwappte auf das Volk über und verstärkte die Bekanntheit des neuen Modells nur noch weiter. Abgesehen von seinem kommerziellen Erfolg brachte der SK 4 der Firma Braun die verdiente innovatorische Anerkennung ein. Der Name Braun wurde zum Synonym für Funktionalität und Ehrlichkeit, und seine Produktionspalette zur Norm des deutschen Designs.
Dieter Rams hatte einen riesigen Einfluss auf die Designwelt. Neben den Arbeiten bei Braun leitete er gemeinsam mit Niels Vitsœ das Unternehmen Vitsœ und entwarf eigenhändig die Möbel für seine Firma. In beiden Tätigkeitsbereichen folgte Rams ein und denselben Prinzipien, die es ihm erlaubten, ein einzigartiges und über viele Jahre hinweg aktuelles Design zu erschaffen: Ergonomie, Ästhetik, Funktionalität, die Nutzbarmachung neuer Technologien, Liebe zum Detail, Nachhaltigkeit, Minimalismus und Redlichkeit. Er war es auch, der vorschlug, die Knöpfe an Abspielgeräten bunt zu machen und als erster ein Audiosystem entwickelte, das man an die Wand hängen konnte.
Das Audiosystem „Audio 1“ für Braun hatte Rams so projektiert, dass es sich leicht in das universale Regalsystem 606 einfügt, das für Vitsœ hergestellt wurde und sich ebenso leicht aus Brettern, Schubladen und Schränkchen zusammensetzen lässt.
Die Ideen von Dieter Rams inspirieren bis heute viele Industriedesigner*innen und sind zum Inbegriff einer Technik geworden, die wir in unserem Zuhause und über seine Grenzen hinaus einsetzen.