„Wir wollen über die Grenzen des Bekannten hinausgehen“

Das Festival der Selbstorganisation am Ende 2019 in Moskau war die Abschlussveranstaltung der zweijährigen Reihe „Raum für Kunst“, einem Gemeinschaftsprojekt des Goethe-Instituts Moskau und des MMOMA. Die teilnehmenden Künstler*innen kamen nicht nur aus Moskau, sondern auch aus anderen Städten Russlands sowie aus Belarus, Polen und Deutschland. Der Text von Maria Kossobokowa für syg.ma ist verschiedenen Arbeitsweisen und funktionellen Besonderheiten unabhängiger selbstorganisierter Projekträume aus Berlin gewidmet.

Von Maria Kossobokowa

Institut für Alles Mögliche

Das Institut für Alles Mögliche ist ein weltweites Netzwerk von Kunsträumen, verbunden in der Idee, einfach alles auszustellen, was nur vorstellbar ist. Es ist eine eigene Infrastruktur für Künstler*innen oder, wie der Gründer Stefan Riebel es nennt: ein Myzel, ein Pilzgeflecht, dessen Erweiterung und Entwicklung selbst zum Kunstwerk wurde. Geburtsstunde des Instituts war vor zehn Jahren, Geburtsort eine kleine Galerie in Berlin, in der Stefan lebte und auch seine ersten Performances entwickelte, ganz unabhängig von Kuratoren.

Heute finden sich Ableger des „Myzels“ – inzwischen sind es 47 – zum Beispiel in Athen, Köln, London, Stockholm sowie in anderen Städten auf der ganzen Welt. Sie existieren in Form von gewohnten Galerien und Residenzen, doch auch in experimentelleren Formen: in einem Bus oder einem Zelt. Ein und derselbe Ort kann sich durch Evolution oder Transformation verändern. Zum Beispiel hat sich ein Teil eines Berliner Raums inzwischen verselbständigt und ist nun eine Bibliothek, während der andere sich in eine Holzkonstruktion verwandelte – heute verwendet als Ausstellungsstand und gleichzeitig Lagerort für Behelfsmaterialien und eine Schnaps-Kollektion. Manche Galerien sind autonome Teile der großen Gemeinschaft, andere werden direkt von Stefan und seiner Schwester Ulrike verwaltet. Jeder Raum hat seinen eigenen charakteristischen Namen, erdacht von den Gründern selbst.

Wir machen uns bewusst, wie wir mit Kunst arbeiten und wie Kunst mit uns arbeitet.

Das Institut für Alles Mögliche unterhält ständige Zusammenarbeit mit Partnern, darunter auch Universitäten, zum Beispiel mit zwei Kunstschulen in Chicago und drei in Korea. Diese Universitäten verleihen jedes Jahr Stipendien an Studenten: sie bezahlen Tickets nach Berlin und die Unterbringung in Residenzen des Instituts. Ein Großteil dieser Gelder deckt die Miete, der Rest wird verwendet für die Vorbereitung und Durchführung von Ausstellungen und Performances, für die Bewirtung von Gästen bei der Eröffnung oder für andere Projektausgaben. Jeder Künstler und jede Künstlerin kann in einer Residenz des Instituts wohnen. Hierbei werden nicht nur vorübergehend Wohn- und Arbeitsraum zur Verfügung gestellt, sondern auch ein Fahrrad, Internetzugang und vor allem Beziehungen in der Stadt. Ganz unterschiedliche Menschen nutzen diese Residenzen: sogar Dozent*innen kommen hierher, um dem Geschehen um sie herum für eine Weile den Rücken zu kehren, Kunstausstellungen am Ort zu besuchen und in aller Ruhe an einem neuen Projekt zu arbeiten. Das Institut öffnet seine Pforten auch für verschiedene Arten von Interaktion mit Publikum. Wer hier seine Ideen umsetzen möchte, muss einen kleinen Anmeldebogen auf der Website ausfüllen und ein Portfolio einschicken.

Stefan und Ulrike entwickeln ihr Institut stetig weiter, obwohl beide daneben auch einen Hauptberuf haben.

Manifest des Instituts für Alles Mögliche:
Wir können Konzeptkünstler und Kuratoren sein.
Wir kreieren was wir wollen in der Umgebung, die wir vorfinden.
Wir machen uns bewusst, wie wir mit Kunst arbeiten und wie Kunst mit uns arbeitet.
Wir erschaffen ein Netz aus Räumen und eine Infrastruktur für Kunst.
Wir suchen Worte, die beschreiben und die passen.
Wir spielen mit Bürokratie.
Wir eignen uns Sprache und Lücken an.
Wir sind sehr wenige und sehr viele.
Wir erobern die Welt.
Wir geben unser Bestes.
Wir nennen das Kunst.

Kreuzberg Pavillon

Dieser Kreuzberger selbstorganisierte Kunstraum wurde gegründet von Lisa Schorm und Heiko Pfreundt. Beide studierten Kunst in kleinen deutschen Städten – in Bremen und in Kassel – und zogen dann in die Hauptstadt, um ihre Ideen ganz unabhängig von Institutionen zum Leben zu erwecken. Fünf Jahre lang organisierte das Paar Ausstellungen und Performances nur samstags und nur zwischen 20 Uhr abends und 3 Uhr nachts. Lisa und Heiko ändern nun ständig das Konzept für die Location und denken sich neue Spielregeln aus. Dabei nehmen sie niemals Geld von den ausstellenden Künstler*innen. Ihrer Meinung nach sollte das die wichtigste Regel für selbstorganisierte Kunsträume sein.

„Wir lieben Experimente und denken uns jedes Mal interessante Aufgaben für die Teilnehmer*innen an unseren Projekten aus“, - erzählt Heiko, „Einmal ließen wir sie etwas mitbringen, was genauso viel wiegt wie sie selbst. Oder Gegenstände, die älter sind als sie selbst. Zu einer Ausstellung sollten die Künstler*innen mal etwas ganz ohne Hilfsmittel bauen, nicht mal Klebeband war erlaubt, und ein andermal haben wir einfach nachts aufgemacht und sind wieder gegangen, nachdem wir den Künstler*innen gesagt haben: bringt her was immer ihr wollt. Und am Morgen sind wir zurückgekommen und die Ausstellung begann.

Wir wollten immer, dass die Leute länger bei uns bleiben als die 10-15 Minuten, die die Berliner im Durchschnitt in Galerien verbringen. Deshalb haben wir manchmal noch Exponate dazugestellt, die Dekoration verändert oder alles über Nacht umgestellt. Wie Sie sehen, mögen wir keine klassischen Themen, das macht alles keinen Spaß. Wir bieten auch keine Förderung für Künstler*innen und keine Ausstellungsorganisation an. Im Gegenteil, die Künstler*innen helfen unserem Projektraum und teilen ihre Ressourcen mit uns. So hat uns zum Beispiel kürzlich ein kanadischer Künstler einen sehr schönen Holzfußboden geschenkt. Das ist ein Symbol für Nachhaltigkeit, das uns noch lange begleiten wird.“

Die Künstler*innen helfen unserem Projektraum und teilen ihre Ressourcen mit uns.

Irgendwann änderte der Kreuzberg Pavillon seine Betriebszeiten und war tagsüber geöffnet. „Wir möchten, dass die Besucher in unseren Ausstellungen aktiv werden.“, sagen Lisa und Heiko, „Unter anderem deshalb organisierten wir eine Reihe von spielbasierten Performances. Das hat sofort die Kinder aus der Umgebung und deren Eltern angelockt, das Projekt bekam ein ganz neues Publikum. Viele junge Leute, unter anderem aus Kreuzberg, arbeiten in der Spieleindustrie oder spielen selbst viel im Internet, der Bereich entwickelt sich rasant. Kunst adaptiert auch Spielmechaniken und fesselt die Menschen, allerdings offline.“

Im Jahr 2019 veranstaltete das Paar das fünfte Project Space Festival Berlin, an dem etwa 30 selbstorganisierte Projekträume für Konzeptkunst teilnahmen. Zwingende Bedingung war es, irgendwo den eigenen Projektraum vorzustellen – jedoch nicht an der eigenen Adresse und nicht in einer anderen Galerie. Der noch im Bau befindliche Flughafen Berlin Brandenburg wurde hier zum Veranstaltungsort – ein riskanter Schritt für das Festival, wird es doch aus staatlichen Mitteln finanziert. Das Experiment wurde unter anderem zum Protestsymbol gegen steigende Mieten und stand gleichzeitig für die Unabhängigkeit von Kunst und Künstler*innen vom konkreten Ort.

alpha nova & galerie futura

Dies ist einer der ältesten selbstorganisierten feministischen Projekträume in Berlin. Seit dem Gründungsjahr 1986 geht es hier vor allem um die Arbeit mit weiblichen Kunstschaffenden. Leitung und Entwicklung der Galerie liegen aktuell in der Hand von den beiden Kuratorinnen Dr. Katharina Koch und Dr. Marie-Anne Kohl, die politisches Engagement und künstlerische Arbeit miteinander verbinden. Ihr Ziel ist die Förderung von kritischem Denken nicht nur in Bezug auf Kunst und Wissenschaft sondern auf die Gesellschaft im Allgemeinen.

alpha nova & galerie futura arbeitet mit Frauen für Frauen. Hier finden themenbezogene Ausstellungen statt sowie Filmvorführungen, Performances, Konzerte, Vorträge, Gesprächs- und Diskussionsrunden wie auch Rundtisch-Gespräche für Kulturproduzentinnen. Künstlerinnen jedweden Backgrounds, die an Konzeptprojekten arbeiten, können sich bei Katharina und Marie-Anne beraten lassen. Die Galerie liegt nicht weit vom Treptower Park und bietet Networking und Coaching für künstlerisch oder politisch aktive Frauen.

alpha nova & galerie futura hat verschiedene Partnerorganisationen und arbeitet gemeinsam mit Interessierten an lokalen, überregionalen und internationalen Projekten. Neben dem Kampf für Frauenrechte liegen die Themenschwerpunkte in Postkolonialismus, Intersektionalität, konzeptuellen und investigativen Ansätze, neuen Formaten für Zusammenarbeit, Kunst als Wissensproduktion und Recherche als künstlerischem Format.

In seiner bereits über 30 Jahre währenden Geschichte änderte das Projekt sein Programm, seine Kuratoren, sein Publikum und sogar seine Adresse. Heute ist der Erfahrungsaustausch zwischen den Generationen ein wichtiger Aspekt für die Galerie. Katharina und Marie-Anne sind bestrebt, eine Verbindung zwischen den unterschiedlichen Erlebnisse, Verständnis und Perspektiven zu schaffen, Kontinuität und Brüche in politischer und künstlerischer Arbeit aufzudecken und zu thematisieren und Networking-Möglichkeiten zu untersuchen. alpha nova & galerie futura ist ein Treffpunkt und Diskussionsort für Feministinnen mit unterschiedlichem Alter und Erfahrungshintergrund.

Ein Ort, an dem Menschen sich umeinander kümmern, lernen, Dinge aussprechen, Wichtiges formulieren, gemeinsam recherchieren und neue Formen des Organisierens erfinden.

Archive Kabinett

Archive Kabinett ist ein interdisziplinärer Projektraum für Recherche und Diskussionen an der Grenze zwischen Kunst und Aktivismus. Ein Ort, an dem Menschen sich umeinander kümmern, lernen, Dinge aussprechen, Wichtiges formulieren, gemeinsam recherchieren und neue Formen des Organisierens erfinden.

Archive setzt sich aus vier miteinander verbundenen Teilen zusammen: Archive Books ist ein Verlag für Zeitschriften über zeitgenössische Kultur sowie für Monographien und Bücher von Künstler*innen. Archive Kabinett ist Bibliothek, Buchhandlung und Veranstaltungsort für Ausstellungen, Seminare, Vorträge, Filmvorführungen und Essensgesellschaften. Archive Journal ist eine Zeitschrift für alles, was mit der Tätigkeit und den Interessen von Archive zu tun hat, wie beispielsweise der Begriff der Dokumentation oder die moderne Verwendung von Übersetzungen. Archives Appendix ist ein Design-Studio mit konzeptionellem Ansatz zum Verhältnis zwischen Text und Illustration.

Das Hauptanliegen von Archive als Verlagsprojekt ist es, neue Möglichkeiten für die Produktion und Anwendung von Wissen zu bieten und Publikationen als Verbindungsglied zwischen Rezipierenden und Produzierenden zu nutzen. „Wir wissen um die Natur und das Potential von Inhalt, und wir wissen, was beim Filtern von Inhalten passiert. Bei der Erstellung von Publikationen verfolgen wir einen gemeinschaftlichen Ansatz. Wir wollen über die Grenzen des Bekannten hinausgehen und Diskussionen über neue Wege der Verbreitung von Wissen eröffnen.“, sagt das Team von Archive, „Neben unserer Arbeit mit Inhalten gründen wir Allianzen und Kollaborationen innerhalb und außerhalb Berlins. Unser Ziel ist es, weiterhin langfristige Beziehungen mit Gemeinschaften und Einzelkünstlern zu pflegen, um Teil einer großen Infrastruktur selbstorganisierter Projekträume zu sein.“

Im Jahr 2018 startete Archive eine Crowdfunding-Kampagne und stellte bei dieser Gelegenheit ihre nächsten Pläne vor: die Publikation einer neuen Reihe ausgewählter Werke, in denen hochaktuelle Probleme beleuchtet werden, die Einführung einer gebührenfreien Verlegerschule, an der neue Wege der Produktion und Verbreitung von Wissen entstehen können, die Einrichtung einer Recherche-Residenz für Autoren, die gemeinsam mit Archive-Redakteuren an neuen Werken arbeiten wollen. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Beitrags zieht Archive in neue Räume um und macht sich bereit für die nächste Etappe ihrer Bestehensgeschichte.

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