Angst
Von Arnold Giskin
I
Ich bin alt. Er ist alt. Du bist alt.
Daran ist nicht zu rütteln. Es ist wie ein Verdikt. Um dich herum sind alle jung und schön, und du bist alt.
Du bist fünfzig, sechzig, fünfundsechzig, siebzig, und so fort.
Das ist viel, ehrlich gesagt, ist es sogar sehr viel.
Bei deiner Anamnese finden sich Errungenschaften, Kinder, Jobs, Auszeichnungen, Siege und Niederlagen, aber das alles zählt jetzt nicht mehr. Du bist einfach nur noch alt.
Deine Meinung zählt ebenfalls nicht mehr, weil du einfach nur alt bist, aber eben nicht Warren Buffett (Einstein, Bill Gates, Spielberg, Mahatma Ghandi, die Liste ist beliebig erweiterbar).
Und außerdem, auch wenn du nicht Ghandi bist: „Die Welt hat sich verändert”, „Opa Mahatma, zu deiner Zeit gab es kein Internet, du hast davon keine Ahnung”.
Meine Tochter meinte zu mir: „Papa, ihr seid die erste Generation, die in diesem Alter noch vergleichsweise gesund, fit und geistig klar ist (an dieser Stelle lächelte sie etwas schief) und wir wollen uns euch ansehen und schauen, wie das ist. Sodass wir uns ein Beispiel daran nehmen können.”
Ich als Beispiel. Ein Beispiel wofür? Dafür, dass ich nicht weiß, was ich mit dem Alter anfangen soll?
Und dann die Gesundheit.
Es ist alles im Normbereich.
Aber alle sagen, dass morgen der Verfall beginnt.
Oder vielleicht schon heute.
Und die Medizin. Die gibt es natürlich. Aber wie wird die Ärzteschaft in einem Jahr auf die Welt blicken, wie in zwei, fünf oder zehn Jahren?
Ich sehe, mit welcher Geringschätzung auf die immer größer werdende Gruppe älterer „Berufspatient*innen” in Polikliniken und Krankenhäusern geschaut wird.
Wir sind inmitten einer Rentenreform.
Einerseits soll ich in zwei Jahren in Rente gehen, andererseits habe ich direkt Angst davor, das Wort „Rentner” in den Mund zu nehmen.
Weil ich sicher bin, dass alle Männer meines Alters und die, die etwas älter sind, im einen oder anderen Maße Bruchstücke dieser Angst verspüren.
Was tun sie? Wie kommen sie damit klar? Gibt es neue Formen eines „Lebens nach dem 60.”?
Oder das traditionelle „sich zur Ruhe setzen”: ein Haus bauen, die Enkel mit großziehen und sich langsam auf den Übergang in einen leblosen Zustand vorbereiten – ist das der einzig wahre Weg?
Ich habe mit meinen Verwandten darüber gesprochen, mit denen, die älter oder ein bisschen jünger sind.
Sie erleben diesen Übergang ganz unterschiedlich.
Über ihre Einstellung zum „fortgeschrittenen Alter”.
Mit denen, die in dieser Zeit beschließen, ihr Leben in irgendeiner Hinsicht zu verändern, und denen, die den traditionellen Weg als den einzig möglichen begreifen.
Ich habe jüngere und viel jüngere Leute zu ihrer Einstellung gegenüber älteren Männern befragt und hauptsächlich höfliche Ausreden zur Antwort bekommen.
Und vor allem habe ich mich selbst zu meinen Ängsten befragt und mich bemüht, sie ehrlich zu reflektieren.
Mehr als dreißig (!) Prozent der Bevölkerung machen Menschen aus, die kurz vor der Rente stehen oder bereits im Rentenalter sind. Davon, wie wir uns in Zukunft fühlen werden, wird in vielerlei Hinsicht auch das Selbstgefühl des Landes abhängen.
II
Ich bin neunundfünfzig.
Fast zehn Jahre lang befinde ich mich nun in einer Art verlorenem Zustand.
Die Kinder sind erwachsen.
Die Arbeit bringt mir keine großen Adrenalinschübe mehr.
Vor sieben Jahren konnte man mir plötzlich nichts mehr recht machen – das ging bis hin zu einer absoluten Unzufriedenheit mit mir selbst. Mit dem, was ich tue. Mit dem, wie ich handle.
So beschloss ich, auf die ungewöhnlichsten Angebote, die mir gemacht würden, positiv zu reagieren.
An zwei aufeinanderfolgenden Tagen bekam ich zwei Anrufe.
Der erste Anrufer bot mir an, an einem Casting teilzunehmen und in diesem Rahmen selbstgebaute Jeeps, Motorräder, Flugzeuge, Boote und sogar Unterseebote auszuprobieren und den Fernsehzuschauer*innen davon zu berichten.
Das zweite Angebot war, einen Reisefilm zu drehen.
Ich habe nicht wirklich an diese Unterfangen geglaubt, mich aber darauf eingelassen (weil ich es mir selbst versprochen hatte).
Und dann hatte ich ein erstaunliches Jahr.
Mit Reisen, Abenteuern, Arbeit fast rund um die Uhr und einer fürchterlichen Erschöpftheit.
Habe ich damals dieses Glück gespürt? Oder richtiger: habe ich damals verstanden, was Glück ist?
Nein.
Ich hatte eine klinische Depression, und vor der konnte mich schwere Arbeit nicht retten.
Es folgte ein Jahr mit Antidepressiva.
Danach
Ich weiß nicht, wie man dieses „Danach” beschreiben soll – ich bin in einen riesigen Aktionismus verfallen, wollte alles Vergangene von mir abstreifen, eine Zeitlang ohne Orientierungspunkt sein, einfach nur in den freien Lüften dahinschweben.
Es hat funktioniert.
Und mich zum absoluten Nullpunkt gebracht.
Oder sogar in den Minusbereich.
Und dann wieder auf Null.
Danach gingen die Gesundheitsprobleme los, es drohte die Onkologie.
Der Geldmangel holte mich ein – alle Projekte und Einnahmen gingen den Bach runter.
Und ich stürzte total ab.
Es gab einen bestimmten Moment, in dem ich mir eine harte Frage stellen musste: „Willst du weiterleben oder nicht?”
Wenn man sich da bereits in einem grenzwertigen Zustand befindet, ist die Antwort gar nicht so einfach.
Aber offenbar bin ich ein großer Fan des Lebens.
Und so begann ich Schritt für Schritt, „mich an den eigenen Haaren aus dem Sumpf zu ziehen”.
Man hat mir sehr dabei unterstützt.
Und zwar Leute, die mich kannten und welche, die mich nicht kannten.
Leute, die mir nahestanden und dir mir sehr nahestanden.
Sie gingen mit mir um wie mit einem kleinen Kind.
Und Schritt für Schritt kam wieder Leben in mich.
Ich kam mit dem seltsamen Bewusstsein ins Leben zurück, dass ich etwas zu verlieren habe.
Und aus irgendeinem Grund kam damit auch die Angst.
Die Angst vor der Zukunft.
III
Ich beobachtete noch aufmerksamer, wie meine Verwandten lebten.
Und merkte, dass Frauen besser mit dem Altern zurechtkommen.
Vielleicht sind sie hormonell gesehen schon vorbereitet, oder vielleicht sind die Veränderungen, wie sie gerade mit Männern vor sich gehen, bei Frauen schon Ende des 20. Jahrhunderts abgelaufen?
Wer gewinnt?
Es gewinnen immer die „Traditionalisten”.
Insbesondere, wenn sie finanziell gut aufgestellt sind.
Haus, Sohn, Baum.
Und sorgsam aufgebaute familiäre Beziehungen.
Wenn die Familie Schutz, Heimat und Festung ist.
Mein Bekannter N. ist Moskauer. Deutlich über die Fünfzig.
Ein Potpourri materieller Werte sowjetischen Typs: Wohnung, Datsche, Auto.
Wenn das Auto kein Dschiguli ist und die Datsche keine Bruchbude mit sechshundert Quadratmetern Land.
Eine Frau, eine Tochter von fünfundzwanzig Jahren; Schwiegersohn und Enkelkinder bislang noch nicht vorhanden.
N. arbeitet in niedriggestellter Leitungsfunktion im Medienbereich und verbringt seine gesamte Freizeit in der Datsche. Bastelt. Macht Handarbeiten. Baut was.
Er ist ein Mensch mit starken moralischen Werten und kann keiner „neumodischen” Tendenz etwas abgewinnen.
Was ihm aktiv gegen den Strich geht, sind „Toleranz”, „Feminismus”, „Greta” und „die Generation ohne Peitsche”.
Natürlich trinkt er auch mal was.
Bekannte und Freunde dieser Art habe ich viele.
Sowohl in Moskau als auch in der Provinz.
Dieses Lebensmodell funktioniert immer noch einwandfrei.
Die Familien sind patriarchal organisiert, gefestigt und gut versorgt.
Die Kinder sind zufrieden, denn es gibt aussichtsreiche liquide Immobilien und eine verlässliche Rückendeckung.
Angeln, Bauen, Vorbereitungen auf den Winter – ihr könnt die Liste selbst fortsetzen, sie ist ja hinreichend bekannt.
Und natürlich ist das der erreichbarste, komfortabelste und sozial akzeptierteste Weg zu sterben.
Und was wird für nicht gut befunden?
Im Film „Happy” der deutschen Regisseurin Carolin Genreith ist das Sujet ganz einfach: der Vater der Regisseurin, etwa sechzig Jahre alt, ist in Thailand auf Brautschau gegangen und hat jetzt vor zu heiraten; er plant einen letzten Lebensabschnitt voller Liebe, Sex (!) und Fürsorge.
Durch die Sorge der Autorin um ihren Vater spürt man im Film eine gewisse Despektierlichkeit, Unzufriedenheit und sogar Scham: „Was ist das nur für ein Idiot, soll er es doch machen wie alle anderen und mit Anstand sterben!”
Denn es gibt ja das Paradigma: ein Mann soll in Würde sterben.
Ich habe einmal eine Erzählung über einen Mann gelesen, der aus Sibirien nach Moskau reiste. Er kam bei Freunden unter und nachts wurde ihm schlecht, er wollte seine Freunde aber nicht beunruhigen, und morgens stellte sich dann heraus, dass es ein Infarkt war. Es gelang nicht, ihn zu retten.
Der Autor lobte diesen wahren sibirischen Mann und seinen Tod, der voller Würde und von dem Wunsch getragen war, kein großes Aufheben darum zu machen.
Mir kommt es irgendwie so vor, dass die Gesellschaft es sowohl früher wie auch heute noch erwartet, dass ein Mann in den letzten Jahren (und Jahrzehnten) seines Lebens nur noch „einen würdigen Eindruck hinterlassen” und keine große Aufmerksamkeit auf sich ziehen soll.
Die kleinste Extravaganz, das kleinste Abweichen vom traditionellen Bild wird von der Gesellschaft als „Marotte” abgetan.
Und darin sind sich, was verwunderlich ist (oder nein, nicht verwunderlich) die rückwärtsgewandtesten Hausherren und die tollkühnsten fortschrittlichen Feministinnen einig.
„Was hast du, Alter? Nicht realisierte Träume? Dann nimm dir einen Ast und ein Messer und schnitz‘ was.”
„Wie? Du strotzt noch vor Energie? Nimm dir Holz und eine Axt und hack es klein.”
„Was, du willst etwas Anderes? Etwas Neues? Na los, dann auf zum Angeln! Auf zum Angeln, aber mit einer neuen Angelrute!”
Gerade ist ein neuer Film der obengenannten deutschen Regisseurin herausgekommen.
Über ihre Mutter, die sich nach der Scheidung eine Menge extravaganter Dinge hat einfallen lassen, wie sie ihr Leben verbringen möchte.
Ich habe den Film noch nicht gesehen, aber aus irgendeinem Grund habe ich das Gefühl, dass die Intention der Autorin diesmal eine andere sein wird.
Das wird ein Fest.