Das Recht auf Langsamkeit
Großmütter, Big Data und der Herr der Ringe

Der Residenzort in Garegasnjerga, Sapmi
Der Residenzort in Garegasnjerga, Sapmi | © privat

Eine Lösung tut sich auf, und sie kommt vom Draußen, vom Winter, von der Kälte: Entschleunigung. Wer ist bereit für Entschleunigung? Wer ist bereit, sich der Macht des omnipräsenten Auges zu widersetzen, auf das wir ständig starren und das uns ständig anstarrt? Die Dichterin Marie‑Andrée Gill reflektiert gemeinsam mit Sunna Nosouniemi über ihre Residenz im samischen Gebiet.

Von Marie-Andrée Gill

Die Stärke der Großmütter

Zurzeit bin ich in Sápmi, genauer gesagt in Gáregasnjárga. Ich absolviere hier eine Schreibresidenz, bei der es um Indigene Kunst und Indigenes Wissen aus dem Norden geht, zusammen mit Sunna Nosouniemi, einer Sámi.

Wir leben auf dem angestammten Gebiet ihrer Familie und teilen unseren Alltag. Vom ersten Tag an hat sich Sunna um mich gekümmert wie um ein Kind: Sie hat mir beigebracht, wie man Perlen stickt, gibt mir zu essen, bis ich pappsatt bin, lässt mich gekochte Rentierzungen probieren und ist sehr geduldig mit meinem Englisch, das ich auf Kleinkindniveau spreche.

So hat Sunna ganz selbstverständlich die Rolle meiner áhkku eingenommen, meiner kukum, meiner Oma: Das ist ein Running Gag zwischen uns, denn sie ist ein ganzes Stück jünger als ich. Doch unser Verhältnis hat eindeutig diese Dynamik. Wir reden oft über das Thema, denn die Großmütter unserer jeweiligen Nationen inspirieren uns zum Nachdenken über die Welt: Langsamkeit, Fürsorge, Beziehungsarbeit, Widerstand gegen Leistungsdruck – alles, was wir aufzählen, steht in krassem Gegensatz zum Zeitgeist. Wir stellen aber auch fest, dass uns viel zu oft Tutorials die echten Großmütter ersetzen, dass wir in einem Strudel von möglichst schnell zu beantwortenden Nachrichten ertrinken, dass die gleichzeitige An- und Abwesenheit, die das Internet mit sich bringt, uns Stress bereitet. Wir haben beide Angst, dass eine Scheinwelt irgendwann unser einziger Erfahrungsraum sein wird. Zum Beispiel sehe ich hier Nordlichter von betörender Schönheit und muss an die Spezialeffekte in Filmen denken. Ich sehe den Fluss Inari im Morgenrot, sehe den Heiligen Berg in den Wolken verschwinden, und statt sie einzuatmen, mache ich Fotos, damit all meine Freunde sehen können, wie viel Glück ich habe. Ich betrachte den frisch gefallenen Schnee und finde, dass seine Kristalle aus der Nähe wie große Pixel aussehen. Kurz gesagt, ich bin mir der Gefahr bewusst, dass das Virtuelle mein erster Anlaufpunkt zu werden droht.

Als Autorin, die Gedichte über die Natur schreibt und über gesellschafts- und klimapolitische Fragen nachdenkt, fühle ich mich wie viele Menschen in dieser neuen Bild- und Erfahrungswelt immer etwas verloren. Sunna und ich unterhalten uns über unsere Vorfahren, die Sámi und die Pekuakamiulnuatsh, und über das Wissen, das sie an uns weitergeben. Wir wollen von ihnen lernen und ihre Lebensweise zum Vorbild nehmen, um uns das Leben zurückzuerobern. Ich habe ein tiefes Bewusstsein dafür, dass alles, was wir in diesem Moment erleben, ein Widerhall von Dingen ist, die anderswo geschehen, auch im Inneren anderer Menschen.

Eine Lösung tut sich auf, und sie kommt vom Draußen, vom Winter, von der Kälte: Entschleunigung. Wer ist bereit für Entschleunigung? Wer ist bereit, sich der Macht des omnipräsenten Auges zu widersetzen, auf das wir ständig starren und das uns ständig anstarrt?

Ein Ring, sie zu knechten

Allmählich wird es dunkel. Der Sonnenuntergang ist genauso atemberaubend wie der Sonnenaufgang kaum vier Stunden zuvor. Sunna nimmt sich ein Raffaello. Ich auch. Sie schmecken nach Kokos. Als wir über Social Media und unser Verhältnis zu Smartphones sprechen, sind wir schnell bei Der Herr der Ringe und Tolkiens visionärer Kraft.

Sunna: Mir geht es genau wie Frodo mit dem Ring, ich taste oft nach meinem Handy. Es hat etwas Beruhigendes zu wissen, dass es da ist.

Marie-Andrée: Ja, genau! Und wenn man auf sein Handy schaut, ist es, als zieht man den Ring an. Man verschwindet aus der wirklichen Welt, in der niemand einen sieht, und betritt eine Parallelwelt, in der man glaubt, alles tun zu können. Aber diese Welt macht auch total süchtig und löst Ängste aus.

Sunna: Genau! Und die Nazgûl, die schwarzen Reiter, sind der Stress, dem wir in dieser Welt ständig ausgesetzt sind.

Marie-Andrée: Absolut! Und das Auge Saurons steht für die großen Firmen, die alles, was wir tun, überwachen, mithilfe von Algorithmen und Werbung. Und sie vergrößern ihre Macht, indem sie überall Handymasten aufstellen! Im Prinzip ist es eine Metapher für den Kapitalismus.



Ich schiebe mir noch ein Raffaello in den Mund und denke, dass wir sicher nicht die Ersten sind, die dieses Gespräch führen und zu diesem Schluss kommen. Trotzdem ist es erschreckend. Wenige Minuten später sind wir beide damit beschäftigt, auf unseren Smartphones nachzuschauen, ob wir neue Nachrichten haben. Ich greife nach einem weiteren Raffaello. Die Schachtel ist leer, wir haben alle aufgegessen.

Marie-Andrée Gill bei der Anfertigung traditioneller Muster
Marie-Andrée Gill bei der Anfertigung traditioneller Muster | © Sunna Nousouniemi

Die Hitze der Daten

Unsere virtuelle Abhängigkeit hat reale Folgen für das Klima. Wie Sauron, der Rohstoffe abbauen und gigantische Schmieden zur Weiterverarbeitung anlegen lässt, um seine Macht zu sichern (okay, jetzt höre ich mit dem Vergleich auf), schadet unsere Internetnutzung dem Weltklima, und zwar Jahr für Jahr mehr. Je mehr Nachrichten wir verschicken, je mehr Dateien wir downloaden, je öfter wir durch unseren Newsfeed scrollen, je mehr „smarte“ Gegenstände wir besitzen, desto mehr Strom verbrauchen die gigantischen Kühlaggregate, die es mittlerweile überall auf dem Planeten gibt. Weil das Ding in unserer Hand so klein ist und weil wir das Gefühl haben, alles geschähe im Unsichtbaren, entwickeln wir kein Bewusstsein für die Folgen unseres Handelns. Mehrere große Firmen planen, Kühlzentren in die Arktis zu setzen, weil die Temperaturen dort so schön niedrig sind. Aber die Hitze der Kühlaggregate trägt zur Erderwärmung bei. Nichts geht verloren, nichts wird neu erzeugt, alles wird nur umgewandelt: Dieses Grundprinzip der Physik ist uns vertraut. Doch das Vergnügen, das uns die Geräte bereiten, ist stärker als das Bewusstsein für den Schaden, den sie anrichten. Es kostet große Mühe, sich all dem zu entziehen. Und so wandeln wir das Vergnügen, immer und überall Zugriff auf das Internet zu haben, weiter in ungeheure Mengen Strom und Hitze um.

Wir leben in einem Paradox: Ich bin mir dessen bewusst und mache trotzdem mit. Mir scheint, ich habe keine Wahl, wenn ich am Fluss der Welt teilnehmen will und alles weiterfließen soll: mein Vergnügen und all die Informationen, Meinungsbeiträge, Nachrichten und Katzenvideos. Je weiter ich in meinem Aktivismus voranschreite, desto mehr habe ich das Gefühl, Rückschritte zu machen, weil alles, was ich tue, weitreichende Konsequenzen hat. Ich glaube, die Lösung liegt im Archetyp der Großmutter und in einer spürbaren Verlangsamung unserer Lebensweise. Ich habe die Social‑Media‑Apps von meinem Smartphone gelöscht, damit sie nicht mehr unmittelbar zugänglich sind. Das ist vielleicht ein erster Schritt.

Ich nehme mir wieder meine Perlenstickerei vor, und Sunna sieht mich an: „Vielleicht schaffen wir es ja irgendwann, unsere Handys in einen Vulkan zu werfen?“ Ich erwidere: „Wenn wir so weitermachen, sind wir diejenigen, die den Vulkan zum Leben erwecken, und seine Lava wird uns verschlingen.“
 

Kuei Pipun,


hallo Winter,


als ich merkte, dass du wiederkommst, hatte ich Lust, dir zu schreiben.

Du kommst immer wieder.

Das beruhigt mich.


Mit dir messe ich die Zeit, hinterlasse ich Spuren, lerne ich Langsamkeit; ich weiß, dass sie die Antwort auf unsere Welt ist.


Im Norden, den wir gemeinsam bewohnen, male ich dich, der du mir in allen Sprachen und in meiner ein treuer Freund bist, mit vertrauten Worten

Gebrumm gefrorener Seen

Zum Träumen einladende Felle

Kindertreiben und Schaukelstuhl

Fichtengrün, Puderzucker und Mitanuiun

Gedämpfte Geräusche und Schneemobilgeruch

Mehlstaub und Tierwärme

Dampfwolken und Schlittschuhe

Papamishkupanu;

Atemschaufeln und Salzkristalle

Knackende Wände und Crazy Carpets

Gerötete Wangen und fliegende Eichhörnchen

Durchscheinende Stickereien, Spiegel aus Eis, Mishkumi

Popcorn im Herzen, weiße Wimperntusche und vor allem zwei Wörter wie ein Refrain:

 
              Lumière, lumière
(blaues Licht auf unseren Fußstapfen)
 
              Tannière, tannière
   (ein Bau, um sich irgendwo in dir, Pipun, auszuziehen)


Du willst allen weismachen, du wärst unausstehlich

Aber das ist nur Fassade, ich kenne dich.

Du hast deine Tricks, deine Verstecke, ich weiß, wo ich dich lieben kann: im ersten Frost, der die Äpfel süß macht, im Pulverschnee, der verrückt nach Gelächter ist, in den schräg fallenden Flocken unter Straßenlaternen, im pappigen Schneemannschnee.


Dein einziges Versprechen lautet: Du bleibst nicht, und das beruhigt mich.

Ich wünschte, wir Menschen könnten einander auch dieses Versprechen geben, das einzig wahre: Wir bleiben nicht. Wir gehen und kommen in anderer Form wieder. Ich halte mich an dir fest und freue mich über deinen Besuch, deine Geschenke, darüber, wie du mit meinen Kindern spielst.


Würde ich an etwas glauben, hätte es deine Augen.


Und mir ist sowieso

immer warm, mein schöner Pipun, mein hübscher Winter,

wenn jemand anders als du

unter meine Bettdecke kriecht.

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Mitanuiun (Innu-Aimun): Schneeansammlung auf den Ästen von Nadelbäumen
Mishkumi (Innu-Aimun): ein Stück Eis
Papamishkupanu (Innu-Aimun): er fährt Schlittschuh
Crazy Carpet (Markenname): Rodelteppich aus Plastik
Lumière (Französisch): Licht, Tageslicht
Tannière (Französisch): Bau, Höhle

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