Auf der Suche nach dem Selbst
Von Elvira Metzler
In einem Gedankenexperiment stellte ich mir vor, wie ich mich nach meiner Zeit als Sprachassistentin in Omsk in einer Firma oder Organisation bewerbe.
Ich stellte mir vor, wie mir beim Vorstellungsgespräch die Frage gestellt wird, warum ich denn so lange studiert habe – tatsächlich wirken 14 Fachsemester für ein Bachelorstudium schon ziemlich viel.
Für eine Antwort habe ich bei diesem Gedankenspiel nicht lange gebraucht:
„Wissen Sie, schon während meines Studiums habe ich im Freundeskreis rumgewitzelt, dass ich ausführlich und gründlich studiere und dass alle guten Dinge im Leben eben ihre Zeit brauchen. Gegen Ende des Bachelors bin ich zu der Erkenntnis gekommen: In der Ruhe liegt die Kraft. Um Ihnen aber ehrlicherweise die Wahrheit zu sagen: Ich habe ab einem bestimmten Zeitpunkt kein BaföG mehr erhalten und war von da an auf mich selbst gestellt. Ich habe angefangen, neben dem Studium zu arbeiten, zum Beispiel habe ich viel unterrichtet. Und so ergab es sich, dass aus den sechs Semestern Regelstudienzeit mein persönliches Langzeitprojekt ‚Bachelor-Studium‘ wurde.“
Der Personalchef des Unternehmens, bei dem ich mich in diesem Gedankenexperiment bewarb, stellte mir eine Frage philosophischer Natur:
„Denken Sie denn, dass sich ‚Erkenntnis‘ und ‚Wahrheit‘ voneinander unterscheiden?“
Ich musste etwas überlegen. Dann fand ich eine Antwort, die mich zufriedenstellte:
„Ich denke, dass ‚Erkenntnis‘ und ‚Wahrheit‘ in jedem Fall einen gemeinsamen Nenner haben: sie sind beide subjektiv, beziehungsweise finden ihren Ursprung in der subjektiven Wahrnehmung. Allerdings unterscheiden sie sich auch voneinander. Während die ‚Erkenntnis‘ in jeder Hinsicht subjektiv bleibt, wird an die ‚Wahrheit‘ der Anspruch der Allgemeingültigkeit, oder genauer gesagt der Objektivität erhoben.“
Das war der Moment, als ich aus dem Experiment ausstieg und in die Realität zurückkam.
„Warum erzählst du mir von deinen Erlebnissen vor deiner Sprachassistenz und von fiktiven Vorstellungsgesprächen danach?“, wäre eine legitime Frage, die du, liebe Leserin oder lieber Leser, mir stellen könntest. Die Antwort ist trivialer als man erwarten könnte: Weil ich gerade mittendrin bin.
Mitten im Programm der Sprachassistenz in Russland, genauer gesagt in der westsibirischen Stadt Omsk. Ja, liebe Leserin und lieber Leser, ihr habt richtig gehört: Ich befinde mich aktuell im Westen Sibiriens. Man könnte annehmen, dass es furchtbar kalt ist – das ist die wohl bekannteste und weit verbreitetste Assoziation, die man mit dieser Region der Welt verbindet. Jetzt im Winter ist es durchaus frisch, aber diese Frische tut einfach gut.
Durch die Zeit, die ich hier bisher seit September 2019 verbracht habe, bin ich zu der Erkenntnis gekommen, dass es kein schlechtes Wetter gibt, wenn man sich den Temperaturen entsprechend anzieht. Außerdem hatten wir dieses Jahr einen warmen, angenehmen Sommer in Omsk, einen milden Herbst und auch der Winter hat sich bislang von seiner sanften Seite gezeigt.
Ich fühle mich hier wohler denn je und nehme die Welt und was in ihr geschieht aus einem anderen Blickwinkel war. Die Menschen, die ich in Omsk getroffen und mit denen ich gesprochen habe, scheinen mir zufrieden zu sein – zufrieden mit sich selbst und mit ihrem Leben.
Diese Zufriedenheit färbt sehr auf mich ab. Ich freue mich jeden Tag aufs Neue darüber, in die Welt hinauszumarschieren und die Wärme, die die Menschen hier im Westen Sibiriens in sich tragen, zu absorbieren und jeden einzelnen Sonnenstrahl zu genießen – und auch wenn die Sonne mal nicht scheint, reflektiert der puderweiße Schnee das Licht so, dass selbst in der Nacht ganz Omsk zu glänzen scheint.
Übrigens, liebe Leserinnen und Leser, glaubt nicht, dass der flockige Schnee das einzige Bezaubernde an Omsk ist. Wenn man sich einmal die Zeit für einen Spaziergang durch die Stadt nimmt, entdeckt man nach und nach die kleinen und großen Schönheiten, die sowohl kulturellen als auch historischen Wert haben. Dabei möchte ich euch nicht allzu viel verraten, damit ihr euch selbst einen Eindruck verschaffen könnt. Eins steht allerdings fest: Die Menschen hier in Omsk haben einen besonderen Sinn für Wertschätzung und gegenseitigen Respekt.
An dieser Stelle möchte ich euch neben dem turbulenten und aufregenden Leben in der Stadt keinesfalls die friedlichen und harmonischen Weiten der Natur Sibiriens vorenthalten, die man besonders im Sommer in vollen Zügen genießen kann. Hier erfreue ich mich an der Ruhe, hole mir die Kraft der Mutter Erde und schöpfe neue Energie, um in dieser sich ständig und rasant verändernden Welt den Überblick zu behalten.
Die schönsten Momente meines Lebens habe ich wohl in der Natur verbracht – um genau zu sein: Auf der Datscha meiner lieben Großmutter. Bei meinem ersten Ausflug dorthin war ich knapp drei Monate alt. Denn ich bin in Omsk geboren, in Deutschland aufgewachsen und nach meinem Studium wieder in meinen Geburtsort zurückgekehrt. Versteht ihr nun, liebe Leserinnen und Leser, warum ich hier auf der Suche nach meinem Selbst bin?
Ich habe erkannt, dass diese Suche nicht einfach sein wird, aber ich gebe trotzdem jeden Tag mein Bestes, um zu erkennen, wer ich bin.
Was ich wollte, habe ich schon geschafft: als Sprachassistentin nach Omsk zu gelangen.