Sonja Lewandowski: Diskussionsbeitrag
Der gesummte Kanon – Homosoziale Empfehlungen im literarischen Gespräch

Feminism for the 99%
Feminism for the 99% | © Verso books

Von Sonja Lewandowski

Welches Buch wurde Ihnen zuletzt empfohlen? Das Buch eines Autors oder einer Autorin? Und von wem wurde Ihnen der Hinweis gegeben? Einem Mann? Einer Frau? Und wessen Empfehlung gehen Sie nach, wann notieren Sie sich einen Namen, laufen in die Buchhandlung oder Bibliothek und stellen sich das Buch dann ins Bücherregal?

Ich frage, denn bislang wird der Bildungskanon als ein schriftlich fixierter gedacht, er wird über Lektürelisten in Seminaren, über die Bestände in Bibliotheken oder Archiven sichtbar. Noch wenig Bewusstsein besteht für flüchtigere Kanonisierungspraktiken, wie der spontanen Nennung von Werken oder Autor*innen im Gespräch über Literatur in Form einer Autor*innenempfehlung, eines Lektüretipps oder einfachem Namedroppings – eine Praktik, die durch die reine Auswahl der Namen trotzdem eine Wertungshandlung ist. Dahinter steht immer die Frage, welche literarische Referenz wird von wem und wie selbstverständlich als tragende Säule in ein literarisches Gespräch gesetzt? Brinkmann, Brecht und Bernhard oder die Brontë-Schwestern? Was wir lesen, was wir gelesen haben sollten, was wir ‚unbedingt lesen müssen‘, bildet den literarischen Kanon, der nicht nur eine Liste von Büchern ist, sondern sich auch mit dem musikalischen Genre des Kanons vergleichen lässt: Mehrstimmig gesungen, in permanenter Wiederholung und nicht mehr aus dem Kopf zu bekommen.

Zu den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur hat eine aufmerksame Twitterercommunity Namensnennungen in den Jury-Diskussionen des wichtigsten deutschsprachigen Literaturwettbewerbs unter dem Hashtag #tddlkanon gezählt.[1] Wenig überraschend wurden von den Jurymitgliedern (vier Männer, drei Frauen) überwiegend männliche Autoren genannt.

Nun ist das unverbindliche Urteil in Form eines Literaturtipps oder eines pointierten Namedroppings nicht gleich beschlossener Bildungskanon und doch, so schreibt Berit Glanz über den mündlichen Kanon des Bachmannpreises, ist es eine maßgebliche „performative Kanonisierungspraxis“[2]. Es lohnt sich deshalb zu fragen, welche Vermittler*innen mit welchen Präferenzmodellen durch ihre Empfehlungen die eigene literarische Sozialisation geprägt haben und weiter prägen dürfen.[3] Die wie selbstverständlich von Kommiliton*innen genannten Autorennamen füllen mein white male bookshelf[4], die homosozialen Autorenempfehlungen des Professors kondensieren in curricularen Lektürelisten, die Jurygespräche mit hauptsächlich männlichen Autorenreferenzen beim Bachmannpreis bestätigen einen männlichen Kanon – bis man schließlich selbst in das literarische Bruder Jakob einstimmt. Im Buchladen erhält man dann gleich den nächsten homosozialen Tipp: „Wenn Sie sich für historische Frauenfiguren interessieren, kann ich Ihnen sehr das neue Buch von Feridun Zaimoglu empfehlen, Die Geschichte der Frau.“ Zu Hause rubbelt man sich mit den Buchdeckeln (dust jackets) der empfohlenen Titel intellektuell trocken. Und irgendwann steht man vor der eigenen Büchergarderobe und stellt fest: Nichts passt und alles ganz schön weiß und männlich hier.

Gerahmt werden die unverbindlichen Urteile im literarischen Gespräch (ebenso wie in der offiziellen Literaturkritik) häufig durch ein souveränes Stehsatzrepertoire, das von attributiven Zuschreibungen („Melles Roman ist einfach großartig!“), über homosoziale Referenzketten („Der Weltliteratur nahe ... Plastischer war Depression höchstens mal bei David Foster Wallace.“ Die Welt) bis zum jovialen Imperativ („An Brinkmann kommt man nicht vorbei.“) reicht.

Autorinnen sind – auch das zeigt die literatursoziologische Ministudie der Twittercommunity unter dem Hashtag #tddlkanon – von der flüchtigen Nobilitierungsgeste häufig ausgeschlossen. Höchstens noch als literarische Token, vielleicht mal Ingeborg Bachmann oder die Nobelpreisträgerin Elfriede Jelinek, vielleicht Virginia Woolf. Das Autorinnen-Alphabet geht häufig nur von B wie Bachmann bis W wie Woolf, bleibt ein verkürzter Muskel und die literarische Sozialisation ist nicht selten durch dieses intertextuelle Humpeln geprägt. Die Autorin Alina Herbing beschreibt ihre Studienzeit als angehende Autorin wie folgt: „Die Seminarsituationen sind ansonsten so, wie ich sie von anderen Universitäten schon kenne: Wenige männliche Studierende melden sich sehr viel öfter zu Wort als die Kommiliton*innen, dominieren die Diskussionen mit jeder Menge Namedropping, Filmwissen und Philosophen-Zitaten.“[5] So summt sich das, was in actu und situ erinnert wird schließlich auch über die bildungsinstitutionellen Stimmbänder fest.

Als ‚Normalleserin‘ ebenso wie als angehende Autorin ist man mit großer Wahrscheinlichkeit durch androzentrische Lesebiographien geprägt, die in homosozialen Männergemeinschaften gewachsen sind, sprich in Gruppen, in denen Männer sich ihrer Männlichkeit versichern und durch die Ausschließung von Frauen ihre Habitusspielwiese weiter beturnen können. Und obwohl mehr Frauen an den Schreibschulen zu Autorinnen ausgebildet werden, führt die eingespielte homosoziale Männergemeinschaft auch in der Unterzahl das literarische Gespräch an.

Es ist also nicht verwunderlich, dass auch im Gespräch über Literatur die Namen männlicher Autoren präsent sind. Das heißt dann konkret: Geht es in einem dieser Gespräche um Literaturhinweise zum Thema Depression werden mir David Foster Wallace oder Thomas Melle empfohlen und nie Sylvia Plath. Oh, und Lars von Triers Melancholia muss man natürlich auch gesehen haben. Der gesprochene Kanon ist zwar längst kein rein literarischer mehr, aber immer noch ein vorherrschend männlicher.
Die Kritik an einem männerdominierten Kanon muss darum über die kritische Bestandsaufnahme der Lektürelisten und Bibliotheksregale hinausgehen und sich auch den mündlichen Praktiken der Marginalisierung von Autorinnen widmen. Der gesummte Kanon ist ebenso einlullend wie flüchtig, hinterlässt für den Moment keine schriftlichen Spuren und hat in seiner impliziten Wirkweise dennoch einen enormen Einfluss auf unseren literarischen Wertekompass. Und obwohl eine Empfehlung nur ein unverbindlicher Hinweis auf einen wertgeschätzten Text oder einen für gutbefundenen Autor ist, widerspiegelt sie doch oftmals eine männlich dominierte literarische Kultur, die konkrete Auswirkungen auf unsere Vorstellung von guter und schlechter Literatur hat.

Auch den Umgang mit einem Lektüretipp als Empfehlungs-Empfangende gilt es daher zu entautomatisieren, das Gefühl der intellektuellen Unzulänglichkeit ziehen zu lassen, das dem Eindruck eines permanenten Aufholbedarfs zugrunde liegt.

Mittlerweile hat sich das literarische Gespräch durch soziale Medien wie Twitter oder Instagram ausgeweitet. Lektüreempfehlungen finden in ähnlicher Form nun in Tweets oder Threads statt, die die homosoziale Autorengemeinschaft herausfordern und beispielsweise unter Hashtags wie #frauenlesen oder #wirlesenfrauen gendersensible Nachholbildung leisten. An solchen Orten kann zumindest ein Teil verpasster Empfehlungen des weiblichen Kanons nachgeholt und Gegenwartsliteratur mit bewusstem Fokus auf Literatur von Frauen besprochen werden. Durch die medial vorgeschriebene Kürze entsprechen die Tweets in etwa dem Sprechakt der Empfehlung im literarischen Gespräch. Sie fordern im lockeren Imperativ zur Lektüre auf – „Lest dieses Buch“ –, verlinken mitunter noch einen Artikel, der das Buch rezensiert und geben ein, zwei Argumente mit auf den Weg, warum man das Buch lesen sollte.

[1] Die Ergebnisse der Zählung, die u.a. der Account des Mikrotext-Verlags, Simon Sahner und Berit Glanz erledigten, wurde hier festgehalten: Berit Glanz: „Kanon-Wrestling bei den 43. Tagen der deutschsprachigen Literatur #tddlKanon“, in: https://www.54books.de/kanon-wrestling-bei-den-43-tagen-der-deutschsprachigen-literatur-tddlkanon/ (zuletzt abgerufen am 28.8.2019).
[2] Ebd.
[3] Von Heydebrand/Winko
[4] Siehe zur Reflexion des eigenen Bücherregals mit überwiegender Literatur von weißen Männern die Kolumne von Tillmann Severin: https://literaturwissenschaft-berlin.de/my-white-male-bookshelf-tillmann-severin/ (zuletzt abgerufen am 28.8.2019).
[5] https://www.merkur-zeitschrift.de/2017/07/06/spass-haben-und-bloedes-zeug-reden/

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