Monica Bravo Granström: Diskussionsbeitrag
Mehrsprachigkeit in der Schule
Unsere heutige Gesellschaft ist eine internationale Gesellschaft, nicht zuletzt aufgrund der vielen verschiedenen Sprachen in unserem Umfeld und an unseren Schulen. Die Zahl mehrsprachiger Schüler*innen hat in vielen Ländern infolge von Migration zugenommen. Auf politischer Ebene wird Mehrsprachigkeit überwiegend begrüßt und es werden Initiativen zu ihrer Förderung ins Leben gerufen. Auf praktischer Ebene bringt die sprachliche Vielfalt der Schüler*innen allerdings große Herausforderungen für das Bildungswesen und die Bildungspolitik mit sich.
Von Monica Bravo Granström
Sprache ist uns allen gemein. Wir wachsen mit mindestens einer Sprache auf, die meistens als Muttersprache oder Erstsprache bezeichnet wird. Es ist die Sprache, die uns zuerst im Leben begegnet. Allerdings kann man auch mehrsprachig aufwachsen, also mehrere Erstsprachen haben. Oder man lernt später im Leben neue Sprachen dazu und erlangt nach und nach Mehrsprachigkeit mit einer – oder mehreren – Zweitsprachen.
Die Definition von Mehrsprachigkeit hat sich im Laufe der Zeit gewandelt. Angefangen bei einer recht restriktiven Zweisprachigkeit, deren Ziel es war, „zwei Sprachen perfekt zu beherrschen“ bis hin zu einer eher funktionalen Mehrsprachigkeit, wonach die verschiedenen Sprachen je nach Lebenssituation angewendet werden. Letzteres entspricht der Sichtweise der EU, die empfiehlt, dass Kinder von zugewanderten Personen in ihrer Muttersprache unterrichtet werden. Die Beherrschung mehrerer Sprachen gilt darüber hinaus als Schlüsselkompetenz.
In meiner 2019 abgeschlossenen Dissertation habe ich den Leseunterricht in mehrsprachigen Settings in Schweden, Deutschland und Chile untersucht. Schweden und Deutschland weisen große Gemeinsamkeiten auf, auch in Hinblick auf die ähnliche Sprachenvielfalt an den Schulen. Gegen Ende der 2010er Jahre sprachen in beiden Ländern über 20% der Schüler*innen zuhause mindestens eine zusätzliche Sprache neben Schwedisch oder Deutsch. Allerdings gibt es Unterschiede zwischen den Ländern, wenn es darum geht, wie Mehrsprachigkeit erreicht und welche Sprachen berücksichtigt werden sollen.
Eine Erklärung hierfür ist die unterschiedliche Schulpolitik der beiden Länder. Obwohl auch in Schweden zum Teil die Kommunen zuständig sind, werden viele Entscheidungen auf nationaler Ebene getroffen. In Deutschland hingegen liegt die Verantwortung für das Bildungswesen bei den Ländern. In der Folge gibt es beim Schulsystem Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern, nicht zuletzt beim muttersprachlichen Unterricht.
Dieser wurde in Schweden bereits 1968 für sogenannte "Heimatsprachen" (hemspråk) eingeführt, das heißt, Kinder hatten Anrecht auf Unterricht in ihrer Muttersprache. Voraussetzung war, dass ein Elternteil eine andere Muttersprache als Schwedisch hatte und dass diese Sprache die Alltagssprache der Familie war. Außerdem mussten die Schüler*innen bereits über Grundkenntnisse dieser Sprache verfügen.
Heute fallen darunter 150 verschiedene Sprachen. Im Schuljahr 2018/19 hatten 298.600 Schüler*innen in Klasse 1 bis 9 Anspruch auf muttersprachlichen Unterricht (modersmålsundervisning). Die häufigste Sprache ist Arabisch mit rund 65.000 Schülern. Muttersprachlicher Unterricht in Deutsch stand im selben Jahr rund 4.300 Kindern zu.
Einen vergleichbaren Anspruch auf einen herkunftssprachlichen Unterricht (HSU, früher muttersprachlicher Unterricht) nach schwedischem Vorbild gibt es in Deutschland auf nationaler Ebene nicht. Neben Englisch können deutsche Schüler*innen weitere Sprachen lernen, je nach Schulform vor allem Französisch, Spanisch oder Latein. Es wird jedoch zunehmend gefordert, dass auch die von Zugewanderten gesprochenen Sprachen an den Schulen unterrichtet werden sollten.
Da Bildung in Deutschland Ländersache ist, wird HSU, wenn es ihn denn gibt, unterschiedlich gehandhabt. In Baden-Württemberg organisieren die Heimatländer der Zugewanderten zwei bis fün Stunden herkunftssprachlichen Unterricht pro Woche über ihre Konsulate. Das Land Nordrhein-Westfalen bietet fünf Stunden muttersprachlichen Unterricht pro Woche an. Und in einigen Bundesländern gibt es ihn gar nicht.
Es liegen keine Statistiken zu den Teilnahmezahlen eines solchen Unterrichts in Deutschland vor. Ende 2020 lebten jedoch mehr als 11 Millionen Menschen mit einer anderen Staatsangehörigkeit in Deutschland. Hinzu kommen Menschen mit mehr als einer Staatsangehörigkeit.
Bei der Umsetzung des HSU stehen Deutschland und Schweden vor ähnlichen Herausforderungen. Beide Länder haben Schwierigkeiten, ausgebildete Lehrkräfte zu finden. Auch ist die Ansicht verbreitet, die Schüler*innen sollten sich auf die Schulsprache konzentrieren. Gleichzeitig gibt es trotz der zeitlichen Knappheit des Unterrichts (40-60 Minuten pro Woche in Schweden) die hohe Erwartungshaltung, dass dieser positiven Einfluss auf die schulischen Gesamtleistungen der Schüler*innen hat.
Ungeachtet dieser Herausforderungen wird die Bedeutung von Mehrsprachigkeit sowohl in Deutschland als auch in Schweden auf institutioneller Ebene betont. Mehrere Sprachen zu beherrschen gilt als vorteilhaft.
Im Klassenzimmer sieht es oft anders aus. Das mehrsprachige Potential der Schüler*innen wird nur selten in den Unterricht einbezogen, wie meine Studie gezeigt hat. Die vorherrschenden Unterrichtssprachen sind zweifelsohne Deutsch beziehungsweise Schwedisch. Wenn es herkunftssprachlichen Unterricht gibt, ist er nicht in den übrigen Lehrplan integriert. In meiner Studie wussten mehrere Lehrkräfte nicht, welche Muttersprache ihre Schüler*innen hatten oder ob sie muttersprachlichen Unterricht erhielten. Auch lässt sich eine sprachliche Hierarchie feststellen, nach der bestimmte Sprachen als nützlicher gelten als andere.
Dies gilt insbesondere für Englisch. Schüler*innen mit Englisch als Erstsprache werden mitunter aufgefordert, ein Buch auf Englisch vorzulesen oder vorzustellen. Das zeigt, dass es noch ein weiter Weg ist, bis auch Sprachen abseits der nationalen Schulsprache als nützliche Ressource zum Lernen erkannt werden.
Quellen:
Bravo Granström, M. (2019), Teachers' Beliefs and Strategies when Teaching Reading in Multilingual Settings: Case Studies in German, Swedish and Chilean Grade 4 Classrooms, Logos Verlag, Berlin. Engin, H. (2019).
Herkunftssprachenunterricht und Deutsch als Zweitsprache. In: Christiane Fäcke/Franz-Joseph Meißner (Hg.). Handbuch Mehrsprachigkeits- und Mehrkulturalitätsdidaktik. Tübingen, Narr Francke Attempto, 489–493.
Nationellt centrum för svenska som andraspråk (2020), “Modersmålsämnets betydelse för individ, skola och samhälle”, https://www.andrasprak.su.se/om-oss/nc-tycker-till/modersm%C3%A5ls%C3%A4mnets-betydelse-f%C3%B6r-individ-skola-och-samh%C3%A4lle-1.521644