Carl Undéhn: Diskussionsbeitrag
Mehrsprachigkeit in Europa – früher und heute

Elsass
Foto: Carl Undéhn

Weltweit wächst die Mehrzahl der Menschen in einem mehrsprachigen Umfeld auf. Hier in Europa ist die Vorstellung von einer Nationalsprache noch immer stark verankert – aber spiegelt sie die Realität wider?
 

Von Carl Undéhn

Reist man durch Europa, ahnt man oft nur, wo ein Land aufhört und das nächste beginnt. Die Grenzen sind fließend und eins der wenigen wahrnehmbaren Zeichen sind Schilder, die plötzlich in einer anderen Sprache auftauchen. Schließlich haben die meisten Länder ihre eigene Sprache, frei nach dem Motto: „Ein Land, eine Sprache“.

Stimmt doch, oder?

Offiziell gibt es 24 Sprachen in der Europäischen Union, aber zählt man alle zusammen, kommt man auf über 200. Noch nie war die sprachliche Vielfalt auf dem Kontinent so groß wie heute. In fast allen Teilen Europas sind Sprachen aus weit entfernten Gegenden infolge von Migration ein selbstverständlicher Bestandteil des Alltags. Was als Veränderung erscheinen mag, ist in vielerlei Hinsicht eher eine Fortführung dessen, wie es schon immer gewesen ist. Allerdings mit neuen Elementen in Form von neuen Sprachen.

Die sprachenpolitische Idee im Sinne von „ein Land, eine Sprache“ ist historisch gesehen noch relativ jung. Sie entstand im 19. Jahrhundert im Zuge einer anderen neuen Idee: dem Nationalstaat. Seitdem gilt Sprache als eines der wichtigsten Instrumente, um Menschen innerhalb der Grenzen eines Landes zu vereinen. Sprache ist ein mächtiges Instrument, wenn es um die eigene Identifikation geht, sowohl als Gefühl der Zusammengehörigkeit als auch der Abgrenzung zu Fremdem.

Die Sprache zu betonen, ist daher ein gutes Mittel, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Schließlich gehört Sprache zu unserem alltäglichen Leben, wir alle haben einen Bezug zu ihr. Jeder kann, wenn ihm danach ist, ihre Eigenschaften überhöhen und in ihr mehr sehen als nur ein
Kommunikationsmittel und einen Brückenbauer zwischen den Menschen. Sprache kann dann genau zu dem werden, was einen voneinander trennt.

Als der Philosoph Johann Gottlieb Fichte 1807 in seinen „Reden an die deutsche Nation“ zum  Aufbegehren gegen Napoleon aufrief, spielte die Sprache eine wichtige Rolle. Nationalisten verwiesen gern auf den Inhalt und Fichtes Argument, dass die Deutschen durch die besonderen Eigenschaften ihrer Sprache geeint seien.

Die Vorstellung „ein Land, eine Sprache“ war damals schon etabliert. Sie war einige Jahrzehnte zuvor mit dem Aufkommen des Nationalismus im Gefolge der Französischen Revolution entstanden. Mit ihr wurde die Stellung der französischen Sprache gestärkt, auf Kosten der lokalen Minderheitensprachen des Landes. Dies spiegelt sich heute noch in Frankreichs Verfassung wider, in der Französisch als einzige Landessprache anerkannt wird.

Dennoch gab es in Frankreich schon immer eine große Vielfalt an Regionalsprachen. Neben kleineren Sprachen wie Bretonisch, Baskisch und Katalanisch sprechen mehr als zehn Prozent, d.h. etwa sieben Millionen Franzosen, eine Form des Okzitanischen. Und im Elsass im Osten von Frankreich ist die Sprachhistorie so eng mit der politischen Geschichte verwoben wie vielleicht nirgends sonst. 

Infolge der Kriege zwischen Frankreich und dem damals neu gegründeten Deutschland wechselte das Gebiet zwischen 1870 und 1945 nicht weniger als viermal die nationale Zugehörigkeit. Aber ob das Elsass nun von Paris aus regiert wurde oder von Berlin, die Bevölkerung sprach weiterhin so, wie sie es immer getan hatte - Elsässisch.

Nach dem Ersten Weltkrieg sprachen nur noch drei Prozent der Einwohner Französisch. Als das Elsass nach dem Zweiten Weltkrieg wieder französisch wurde, änderte sich jedoch die Lage. Eine aktive französische Sprachpolitik und die Identifikation des Elsässischen mit den deutschen Besatzern sorgten dafür, dass die Sprache in Ungnade fiel.

Doch selbst Schweden, das lange Zeit von Kriegen verschont geblieben ist und dessen Grenzen relativ beständig sind, hat keine so homogene Sprachgeschichte, wie man annehmen könnte. Auf dem Gebiet des heutigen Schweden wird seit jeher Samisch gesprochen wie auch Finnisch. Die schwedische Sprache wurde enorm vom Niederdeutschen beeinflusst, und die Hanse sorgte dafür, dass die meisten schwedischen Küstenstädte im Mittelalter zweisprachig waren.

Mit anderen Worten: In den meisten europäischen Ländern finden sich Beispiele für verschiedene Sprachen innerhalb ihrer nationalen Grenzen. Weiten wir den Blick auf andere Kontinente aus, nimmt auch die sprachliche Vielfalt zu.

Mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung wächst mit mehr als einer Sprache als Muttersprache auf, manchmal sogar mit mehreren. Simbabwe führt die Liste der Länder mit den meisten Amtssprachen an und kommt auf stattliche 16. In anderen Ländern mit mehreren Amtssprachen, wie Indien und Südafrika, gibt es viel mehr Sprachen als die offiziellen. 

Sprachliche Vielfalt bedeutet nicht, dass jeder mehrere Sprachen fließend beherrscht oder beherrschen muss. Stattdessen werden oft verschiedene Sprachen für unterschiedliche Alltagssituationen verwendet. Das mag für jemanden, der im heutigen Europa aufgewachsen ist, wo Nationalsprachen eine wichtige Rolle spielen, schwer zu begreifen sein.

Ein Beispiel aus nächster Nähe ist das kleine mehrsprachige Luxemburg, dessen Amtssprachen Französisch, Deutsch und Luxemburgisch sind. Dort ist es seit langem ungeschriebenes Gesetz, dass die Kommunikation mit Behörden auf Französisch erfolgt. Wie in einem unsichtbaren Vertrag haben sich alle darauf geeinigt, dass "es so ist" – und so ist es. Hauptsache, es funktioniert.

Die Vorstellung „ein Land, eine Sprache“ ist also eine sehr europäische Idee, die allerdings wenig mit der Realität zu tun hat, weder früher noch heute.

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