Walter Haas: Diskussionsbeitrag
Mehrsprachigkeit in der Schweiz

Schweizer Nationalfeiertag am 1. August in Zürich, Schweiz
© Colourbox

Die Schweiz ist schon immer ein mehrsprachiges Land. Wie geht die Bevölkerung dort damit um? Offenbar sehr lässig – und etwas neugierig.

Von Walter Haas

Die Schweiz entstand um 1300 durch den Zusammenschluss deutschsprachiger Gemeinwesen. Regionen anderer Sprache kamen seit dem 15. Jahrhundert dazu, meist als nicht völlig gleichberechtigte Mitglieder. Erst im Gefolge der französischen Revolution erreichten alle «Kantone» die politische Gleichstellung. Daraufhin wurden einige politisch-territoriale Grenzen aufgrund sprachlicher Kriterien gezogen.

Eine Rolle für den Status der Sprachen spielte in der vorrevolutionären Zeit auch die Tatsache, dass niemand «deutsch», «französisch» oder «italienisch» gesprochen hat, sondern diesen Sprachen zugeordnete Dialekte. Das war im europäischen Ausland nicht anders. Seit dem 18. Jahrhundert ging das europäische Bürgertum dazu über, die geschriebenen Varietäten, die zunehmend als «Nationalsprachen» begriffen wurden, auch zu sprechen. Diesem Gebrauch folgte die französische Schweiz; heute sind dort die Mundarten praktisch ausgestorben.

Die deutsche Schweiz dagegen hat bis heute am allgemeinen Mundartgebrauch festgehalten. Viele Deutschschweizer halten das Hochdeutsche für ihre erste Fremdsprache und sind sich einig, dass sie nicht «gut» Hochdeutsch sprechen, aber nur wenige würden sprechen wollen wie Deutsche. Der allgemeine Dialektgebrauch der Deutschschweiz erschwert den anderssprachigen Schweizern die Erlernung der grössten Landessprache, aber er fördert gleichzeitig Toleranz für und Interesse an sprachlicher Varianz und verringert Ideen der Suprematie der eigenen gegenüber anderen Sprachen.

«Spätmittelalterliches» Verhältnis

Die Mehrsprachigkeit ihres Staates gehört zum Sprachbewusstsein der Schweizerinnen und Schweizer. Natürlich fragt sich nach jeder Volksabstimmung (deren es viele gibt), ob sich scharfe Gegensätze zwischen den Sprachregionen ergeben. Das ist selten der Fall und deutet darauf hin, dass die Mehrsprachigkeit das Volk nicht entscheidend spaltet.

Schweiz
Foto: Carl Undéhn
Das Schweizer Verhältnis zwischen Sprachen und Staat ist in einem gewissen Sinne «spätmittelalterlich» und erinnert daran, dass Staaten, deren Bevölkerung eine einzige Sprache spricht, immer die Ausnahme waren. Nicht die Anwesenheit von Menschen verschiedener Sprache in ein und demselben Staat macht diesen mehrsprachig, sondern die rechtliche Gleichstellung der vorhandenen Sprachen.

Freilich benötigt eine so verstandene Mehrsprachigkeit Regeln, um das staatliche Funktionieren zu gewährleisten und die Rechte der Einwohner zu wahren. Manche Regeln bezwecken, die Zahl der begünstigten Sprachen zu beschränken: Auch in der Schweiz sind nur Deutsch, Französisch, Italienisch und (eingeschränkter) Rätoromanisch offizielle Sprachen, sie gelten als «autochthon», als «seit jeher» im Lande heimisch. Aufgrund des föderalistischen Staatsaufbaus gilt auch die offizielle Mehrsprachigkeit je nach staatlicher Ebene unterschiedlich. Texte, die den Gesamtstaat betreffen, besonders die Gesetze, werden in allen offiziellen Sprachen publiziert und jede Sprachversion ist gleichwertig, was hohe Anforderungen an ihre inhaltliche Übereinstimmung stellt.

Ein mehrsprachiger Staat braucht Vermittler, welche die Verständigung zwischen den Gemeinschaften sicherstellen. Die Vermittlung von Grundkenntnissen der anderen Landessprachen gilt als Aufgabe der obligatorischen Schule. Sie blieb bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts auf die höheren Schulstufen beschränkt, und sie begünstigte die beiden grossen Sprachen Deutsch und Französisch.

Sprachlicher Konkurrenz in den Schulen

Viele, die keine höhere Schule besuchten, lernten andere Landessprachen durch Arbeitsaufenthalte in den Sprachgebieten. Brauchtümlich wurde das «Welschlandjahr», ein Aufenthalt vor allem schulentlassener Mädchen in Haushalten der französischen Schweiz. Der Brauch profitierte vom Prestige des Französischen und beförderte umgekehrt dieses Prestige in der Deutschschweiz. Er prägte das Bewusstsein der Mehrsprachigkeit auch bei den einfacheren Schichten.

Seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat die Modernisierung die «alte Ordnung» verändert. Das «Welschlandjahr» z.B.  fiel der vermehrten Berufsbildung der jungen Frauen zum Opfer.
Im Fremdsprachenunterricht konkurrenzierte das nicht autochthone Englische die anderen Landessprachen, vor allem das Französische, das in Gefahr geriet, seine Stellung als wichtigste internationale Sprache zu verlieren.

Zwar wurde der Fremdsprachenunterricht in den letzten dreissig Jahren energisch gefördert und für alle Schüler verbindlich, wobei (organisatorisch) seine Verlegung auf frühere Schulstufen, (inhaltlich) die Bevorzugung alltagssprachlicher Kommunikation im Vordergrund stehen.

Dabei erwecken einige Neuerungen den Eindruck überhasteter Entscheide, die sich eher auf common-sense-Argumente als auf gesicherte Erkenntnisse stützen. Streitpunkte sind etwa die Frage, ob als erste Fremdsprache statt einer Landessprache das nicht-autochthone, aber als unverzichtbar eingeschätzte Englische gelehrt werden solle oder ob zwei Fremdsprachen in der Volksschule die Lernenden überforderten. Die Bemühungen um den Fremdsprachenunterricht führen vor Augen, dass die Schweiz ihrer Mehrsprachigkeit mehr Aufmerksamkeit widmet als je zuvor, genauso, wie den Sprachen in der Verfassung von 1999 mehr Raum gewährt wird, als in den früheren Grundgesetzen.

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