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Nicht länger im Verborgenen: Ein Dialog über barrierefreies Kuratieren

Begleitet von den Rhythmen eines Rocksongs wird ein Rollstuhlfahrer an den Rand eines Schwimmbeckens geschoben. Als er ins Wasser eintaucht, erwacht sein eigentlich bewegungsunfähiger Körper plötzlich zum Leben, er dreht sich, den Kopf unter Wasser, so dass seine schlanken Beine zum Vorschein kommen. Vom Poolrand ertönten Jubelrufe und Pfiffe. „Das war damals ein Ort für uns, an dem die Außenwelt nicht zu existieren schien", erinnert sich ein älterer Mann aus dem Off.

Auf dem Plakat zu Sommer der Krüppelbewegung schiebt ein Mann mit einer Gitarre über der Schulter einen Rollstuhl mit einem Jungen, der die Beine überschlagen hat. Im Hintergrund sieht man einen Feldweg, ein paar weiße Häuser und einen üppigen Wald © Netflix Die Szene stammt aus dem Dokumentarfilm Sommer der Krüppelbewegung über ein Sommercamp, das in den USA der 1970er Jahre speziell für behinderte Teenager organisiert wurde. Die Hippies, die in diesem Camp ihre körperliche und geistige Freiheit in vollen Zügen genießen durften, wurden in den folgenden Jahrzehnten zum Rückgrat des Disability Rights Movement in den Vereinigten Staaten, das revolutionäre Veränderungen im Hinblick auf den rechtlichen Schutz und die soziale Teilhabe von Menschen mit Behinderungen bewirkte.

Der Film wurde im Rahmen der ersten Veranstaltung von The Hidden Project gezeigt, einer Online-Workshop-Reihe über Disability Arts und zugängliche Kuration, die gemeinsam von der Abteilung Kultur und Bildung des deutschen Generalkonsulats Shanghai und dem Goethe-Institut in Ostasien veranstaltet wurde. Referent an diesem Tag war Sean Lee, Programmdirektor von Tangled Art + Disability, einer kanadischen Organisation für Kunst und Behinderung. Gemeinsam mit Dr. Kate Brehme, Mitbegründerin des deutschen Netzwerks für Zugänglichkeit in Kunst und Kultur (berlinklusion) leitete er über einen Zeitraum von fast drei Monaten sechs Online-Vorlesungen und Diskussionen, in denen man sich mit 42 Kunstschaffenden aus der Mongolei, Südkorea, Japan, Festland China, Hongkong und Taiwan über Theorien und Arbeitsmethoden des barrierefreien Kuratierens austauschte und die praktischen Möglichkeiten der Zugänglichkeit in Ostasien auslotete.
  Menschen mit Behinderungen demonstrieren auf der Straße einer Stadt, auf Krücken, im Rollstuhl oder mit Blindenhund © Netflix Menschen mit Behinderungen demonstrieren auf der Straße einer Stadt, auf Krücken, im Rollstuhl oder mit Blindenhund

Lee und Brehme, die zum ersten Mal mit einem Kollegium aus Ostasien arbeiteten, nahmen zunächst die regionalen Unterschiede im Umgang mit dem Thema Behinderung in den Blick. Obwohl es überall auf der Welt behinderte Menschen gibt, ist die Wahrnehmung der körperlichen Einschränkungen von Land zu Land sehr unterschiedlich. So wies Lee in seinem Vortrag darauf hin, dass die Identitätsfrage von Behinderten in Nordamerika historisch eng mit der Bürgerrechtsbewegung schwarzer, indigener und farbiger Gemeinschaften verbunden sei, während in Ostasien das Thema race eher selten diskutiert würde. Anstatt von einer Reihe universeller Prinzipien auszugehen, die überall auf der Welt gelten sollten, stellten die Dozent*innen zunächst anhand von historischem Material, unter anderem durch den Film Sommer der Krüppelbewegung, die Entwicklung verschiedener Behindertengemeinschaften in Europa und den Vereinigten Staaten dar. So wurde die Schilderung ihrer eigenen kuratorischen Erfahrung in einen speziellen zeitlichen und gesellschaftlichen Kontext eingeordnet. „Ich wollte nicht ein Kommunikationsmodell mit missionarischem Unterton aus der westlichen Kolonialzeit wiederholen, und den Menschen vorschreiben, ‚so sollt ihr es machen‘“, sagte Brehme in einem Interview. Stattdessen ermutigte sie die Teilnehmer*innen während des gesamten Programms, sich die Einzigartigkeit ihres jeweiligen kulturellen Umfelds zu Nutze zu machen und im Workshop ihre eigenen Erfahrungen in der Praxis zu teilen, um den gegenseitigen und gleichberechtigten Austausch zwischen Dozent*innen und Teilnehmer*innen zu gewährleisten.

Für die Projektteilnehmerin und unabhängige japanische Kuratorin Miyuki Tanaka sollte dieser Austausch auch auf die jeweilige Community der Teilnehmer*innen ausgeweitet werden, um weitere Verknüpfungen innerhalb der ostasiatischen Region zu schaffen. „Man hat ohnehin selten die Gelegenheit, über inklusive Kuration zu diskutieren, eine noch wertvollere Chance sich zu vernetzen, ist jedoch der Austausch mit Menschen, die ähnliche Traditionen und Werten haben". Ihrer Ansicht nach können die kulturellen Gemeinsamkeiten ostasiatischer Länder dazu beitragen, eine kohäsive Kraft innerhalb der Region zu entwickeln und die westlich geprägten Konzepte von Behinderung im ostasiatischen Kontext zu verankern. „Es ist wichtig, vom Westen zu lernen, aber wir müssen auch unsere eigene Stimme finden", so Tanaka.

Das Format der Online-Sitzungen machte es jedoch schwierig im Rahmen von The Hidden Project einen wirklich intensiven Dialog zu realisieren. Doch auch wenn die Videokonferenzen ein Zugeständnis waren, um die COVID-Beschränkungen zu erfüllen, bekam dieser internationale Austausch, der sonst vielleicht auf wirtschaftlich entwickelte Länder beschränkt gewesen wäre, auf diese Weise eine größere Reichweite. Mungunchimeg Bat-Erdene von der National Art Gallery of Mongolia erinnert sich noch daran, wie erwartungsvoll sie am Eröffnungstag war: „Zu diesem Zeitpunkt war es in der Mongolei bereits dunkel. Ich hatte meinen Computer zuhause schon frühzeitig angeschaltet und wartete gespannt vor dem Bildschirm." Schon die Selbstvorstellungen der Teilnehmenden zu Beginn der Konferenz empfand sie als Inspiration: „Ich hoffe, eines Tages selbst zur Zugänglichkeit der Kunst beitragen zu können und dabei so selbstbewusst aufzutreten wie sie.“
  The Hidden Project bot den Teilnehmer*innen Simultanverdolmetschung zwischen fünf ostasiatischen Sprachen und Englisch an, so dass sie in einer ihnen vertrauten Sprache zuhören und sich ausdrücken konnten © The Hidden Project The Hidden Project bot den Teilnehmer*innen Simultanverdolmetschung zwischen fünf ostasiatischen Sprachen und Englisch an, so dass sie in einer ihnen vertrauten Sprache zuhören und sich ausdrücken konnten

Als Projekt mit dem Fokus Behinderungen wurde bei The Hidden Project auch der gelebten Inklusion Priorität eingeräumt. Die Vortragenden begannen jede Sitzung mit einer kurzen Beschreibung ihres Aussehens und ihrer Garderobe - eine Praxis, die ursprünglich entwickelt wurde, um blinden Menschen zu helfen. Lee war allerdings der Meinung, visuelle Beschreibungen sollten generell zur Routine werden, auch wenn man nicht wüsste, ob Sehbehinderte im Publikum sind, um so „apriori getroffene Annahmen der Menschen über die Identität der Anwesenden in Frage zu stellen“. Indem proaktiv auf die Bedürfnisse von Menschen mit Sehschwäche eingegangen würde, würden Anwesende mit Behinderungen dem normalen Publikum gleichgestellt.

Bei der Beschreibung ihres Aussehens verwenden Sehende oft Wörter, die mit Farben zu tun haben. Dr. Kojiro Hirose vom Nationalen Museum für Völkerkunde in Japan, einer der blinden Teilnehmer an The Hidden Project, meinte dazu: „Ich erinnere mich jetzt schon nicht mehr daran, welche Farbe mein Hemd hat. Vielmehr als die Farbe interessiert es mich, wie es sich in meiner Hand anfühlt." Diese Austauschbarkeit der Sinne hat eine andere Kursteilnehmerin, Liz Young Ho Man, eine in Hongkong ansässige Beraterin für barrierefreie Kunst, nachhaltig beeindruckt und ermutigt sie, die Grenzen ihrer individuellen Erfahrung auszudehnen: „Welche anderen Möglichkeiten gibt es, die Welt zu begreifen und uns auszudrücken, wenn wir unsere gewohnten Denkweisen über Bord werfen?"

Multisensorische Erfahrungen sind auch das Thema von Dr. Amanda Cachia, Kunsthistorikerin und Kuratorin, die als Gastdozentin an The Hidden Project teilnahm. Ihren Beobachtungen zufolge wird an barrierefreie Angebote in Museen oft erst gedacht, wenn eine Ausstellung schon fertig dasteht - ergänzende Materialien wie Braille-Schrift und visuelle Beschreibungen sind meist kein integraler Bestandteil von Ausstellungen und werden daher leicht übersehen. Aus diesem Grund schlägt sie für die Praxis eine „kreative Herangehensweise an die Barrierefreiheit“ vor, die Kurator*innen ermutigen soll, die Idee der Zugänglichkeit bereits in der Konzeptionsphase einer Ausstellung mitzudenken; so könnten etwa multisensorische Erfahrungen für das Publikum zum zentralen Element des Werkverständnisses werden und zugleich den physischen Zugang von Personen mit Behinderungen berücksichtigen. Auf diese Weise könnten Ausstellungen nicht nur den praktischen Bedürfnissen von behinderten Besucher*innen gerecht werden, sondern auch die Kreativität der Kurator*innen abbilden.
  In der Ausstellung „Composing Dwarfism: Reframing Short Stature in Contemporary Photography", die von Dr. Amanda Cachia 2014 im Space4Art in San Diego, USA, kuratiert wurde, wurden die Werke in Rücksichtnahme auf Besucher*innen mit Zwergenwuchs niedriger gehängt, wodurch sich eine geschickte Kombination von inklusiver Gestaltung und Ausstellungsthema ergab. © Art in America In der Ausstellung „Composing Dwarfism: Reframing Short Stature in Contemporary Photography", die von Dr. Amanda Cachia 2014 im Space4Art in San Diego, USA, kuratiert wurde, wurden die Werke in Rücksichtnahme auf Besucher*innen mit Zwergenwuchs niedriger gehängt, wodurch sich eine geschickte Kombination von inklusiver Gestaltung und Ausstellungsthema ergab.

Die Fokussierung auf bestimmte Sinne kann jedoch auch Konflikte mit sich bringen und ins Gegenteil umschlagen. Im Rahmen von The Hidden Project schlug Dr. Hirose aus Japan beispielsweise vor, in einem komplett verdunkelten Raum auszustellen, um das Publikum im taktilen Erspüren von Kunstwerken zu trainieren. Ein solcher Ansatz macht zwar für Sehende die Erfahrungswelt von Blinden physisch erfahrbar, könnte für im Allgemeinen visuell abhängige Betrachter*innen aber auch abschreckend wirken.

Abgesehen von den kuratorischen Ideen, passiert es auch, dass Künstler*innen durch ihre Werkgestaltung Barrieren für bestimmte Personen schaffen. Eine weitere Teilnehmerin von The Hidden Project, Michelle Yeonho Hyun, Direktorin und Kuratorin am Institute of Contemporary Arts an der NYU Shanghai, hatte während einer Diskussionsrunde auf dem Internationalen Festival für Inklusive Kultur „Diverse As We Are" (DAWA) eine Videoinstallation gezeigt, bei der das Publikum durch einen niedrigen, höhlenartigen Eingang kriechen musste. Obwohl Zuschauer*innen mit eingeschränkter Mobilität oder großer und kräftiger Statur auch aufrecht durch eine Seitentür in den Videoraum gelangen konnten, schien dieser barrierefreie alternative Zugang die ursprüngliche Intention des Künstlers zu konterkarieren, da dieser gerade das Gefühl evozieren wollte, man würde sich gebückt durch einen Dschungel bewegen.
  Der Screenshot aus einer Gesprächsrunde von The Hidden Project zeigt auf der rechten Seite die Bildkacheln der Teilnehmenden und auf der linken Seite die Diashow der Referentin. Das Bild zeigt zwei Besucher*innen, die vor einem niedrigen Eingang kauern. Die Gesprächsrunde bildete den vorläufigen Abschluss des Workshops. Der Vortrag „Diverse As We Are" (DAWA) wurde in Zusammenarbeit mit OCAT Shanghai, der Abteilung für Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats in Shanghai und dem Generalkonsulat von Kanada in Shanghai präsentiert © Institute of Contemporary Arts at NYU Shanghai Der Screenshot aus einer Gesprächsrunde von The Hidden Project zeigt auf der rechten Seite die Bildkacheln der Teilnehmenden und auf der linken Seite die Diashow der Referentin. Das Bild zeigt zwei Besucher*innen, die vor einem niedrigen Eingang kauern. Die Gesprächsrunde bildete den vorläufigen Abschluss des Workshops. Der Vortrag „Diverse As We Are" (DAWA) wurde in Zusammenarbeit mit OCAT Shanghai, der Abteilung für Kultur und Bildung des Deutschen Generalkonsulats in Shanghai und dem Generalkonsulat von Kanada in Shanghai präsentiert

„Es ist unmöglich, den Bedürfnissen aller gerecht zu werden", meint Choi Yeon, eine koreanische Kuratorin und Teilnehmerin an The Hidden Project. Ihr zufolge gibt es angesichts der individuellen Unterschiede bei dem Versuch, Barrieren zu beseitigen, kein absolutes Richtig oder Falsch: „Solange wir uns aufrichtig um Inklusion bemühen und zeigen, dass wir uns für die Zugänglichkeit des behinderten Publikums einsetzen, werden uns Besucher*innen mit Behinderungen ein Feedback zu unseren Aktionen geben und uns mitteilen, wo wir uns verbessern können.“ Ein solcher Feedback-Mechanismus sollte jedoch nicht als Handlungskodex missverstanden werden, der vorschreibt, was richtig oder falsch ist; auch nicht als eine von höherer Instanz vorgelegten Liste, die man einfach abhaken muss; vielmehr braucht es eine interdependente Zusammenarbeit, einen sich entwickelnden Prozess, der auf Selbstbeobachtung und Kommunikation beruht.

Viele Teilnehmer*innen von The Hidden Project bekundeten nach dem Kurs, die Kommunikation verbessern zu wollen und sich in ihrer zukünftigen Arbeit mehr um eine Zusammenarbeit mit behinderten Menschen zu bemühen, sei es bei der Auswahl von Künstler*innen und kuratorischen Partnern für Ausstellungen oder durch die gezielte Einladung von Menschen mit Behinderungen um die Zugänglichkeit von Ausstellungsräumen zu überprüfen. All das kann dazu beitragen, Behinderte in die Projektteams einzubinden und ihren Gemeinschaften eine Stimme zu geben.

Während so eine innere Reflexion über die eigene Arbeit einsetzte, richteten viele der Teilnehmenden ihren Blick auch nach außen auf strukturelle Probleme in der Gesellschaft. Liu Ziyuan vom Kunstmuseum der Guangdong Academy of Fine Arts ist der Ansicht, dass der Aufbau der städtischen Infrastruktur die Grundlage dafür ist, dass Menschen mit Behinderungen an gesellschaftlichen Aktivitäten partizipieren können. Daher hofft sie, durch die inklusiven Bildungsaktivitäten des Museums mehr Leute aus Wissenschaft und Design für das Thema der Barrierefreiheit zu sensibilisieren. Dr. Hsin-Yi Chao von der National Chung Hsing University in Taiwan möchte hingegen den im Kurs vorgestellten soziologischen Forschungsansatz weiterverfolgen und aus dieser Perspektive die Beziehung zwischen Taiwans Regierungsinitiativen in punkto Behinderung und den lokalen kulturellen Gleichstellungsbewegungen analysieren.

The Hidden Project bot nicht nur den Teilnehmenden Lernimpulse, sondern brachte auch den beiden Workshop-Leiter*innen neue Inspiration. Dr. Brehme wird weiterhin komparatistische Studien zur Geschichte der Behinderung in Europa und Asien, insbesondere in Deutschland und Japan anstellen, und mit Hilfe einer Kunstausstellung einen interkulturellen Dialog etablieren. Lee erforscht als Behinderter mit chinesischen Wurzeln derzeit die Beziehungen, die zwischen seiner Identität als Behinderter und seiner chinesischen Diaspora-Identität bestehen, und untersucht, inwiefern sich diese beiden Gemeinschaften überschneiden.

Angesichts der anhaltenden Auswirkungen der Corona-Epidemie sind wir mehr denn je darauf bedacht, die Menschen zusammenzubringen. Die Teilnehmer*innen und Mitwirkenden von The Hidden Project schalteten sich weltweit aus vier Zeitzonen ein, manchmal früh am Morgen oder spät in der Nacht. In dieser Hinsicht machte The Hidden Project nicht nur die gesellschaftlich häufig marginalisierten Geschichten von Menschen mit Behinderung sichtbar, sondern auch die von Menschen, die durch Zeit und Raum getrennt sind. Gemeinsam navigieren diese Geschichten und Personen zwischen Ost und West, zwischen Aktion und Anpassung, zwischen gleichberechtigter Inklusion und Andersbehandlung und schaffen eine Vision für eine pluralistischere Gesellschaft.


Übersetzung aus dem Chinesischen: Julia Buddeberg
 

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