Mit zehn Jahren war ich das erste Mal am Meer. Ich kann mich bis heute erinnern, wie ich mich begeistert hineingeworfen habe, doch sofort rannte ich schreiend wieder an Land, schockiert darüber, wie schrecklich salzig das Wasser war, wie Augen und Mund davon brannten. Heute hingegen kann ich mir einen richtigen Sommer ohne Meer gar nicht mehr vorstellen.
Meine erste Begegnung mit dem salzigen Meerwasser fand im Libanon statt, am bekanntesten öffentlichen Strand in Beirut, Ramlet el-Baida. Als ich das erste Mal in Beirut war, verblüfften mich auch die militärischen Kontrollpunkte an den Grenzen jedes Stadtviertels. Kleine Jungs sind natürlich von MGs, Granaten, Panzern und Soldaten fasziniert, aber eher in Actionfilmen und Computerspielen – ihre permanente Anwesenheit in den Straßen wirkte beunruhigend. Aber das ist schon lange her, es war kurz nach Ende des langjährigen und grausamen Bürgerkriegs, der die Schweiz des Nahen Ostens für immer verändert hat.
Den Krieg habe ich zum Glück nie erlebt. Im Unterschied zu meinen libanesischen Großeltern, meinem Vater, seinen Brüdern, ihren Ehefrauen und Kindern. Ich verbrachte eine friedliche Kindheit in der Slowakei, wo ich auch geboren bin. Zwar herrschte damals ein totalitäres System, aber als Kind habe ich jene Zeit nicht negativ wahrgenommen. Wer weiß, wie ich meine Kindheit empfunden hätte, wenn ich sie im Libanon verbracht hätte. Erst Anfang der Neunzigerjahre habe ich dort mit meiner Mutter vier Jahre bei meinem Vater verbracht. Wir sind damals aus eigenem Willen gegangen – er hingegen wurde Mitte der Achtziger gezwungen, die Slowakei zu verlassen. Obwohl er hier studiert, gearbeitet und eine Familie gegründet hatte. So war die Zeit. Bei all den schlimmen Dingen, die in der damaligen Tschechoslowakei geschehen sind, war es doch in jenen Jahren im Libanon viel schlimmer.
Ich bin Slowake und gleichzeitig Libanese. Bin ich also mehr Halbslowake oder Halblibanese? Wahrscheinlich ist das egal. Wichtiger für mich ist, dass ich mich weder für das eine noch für das andere schäme. In den Libanon reise ich gern (wenn auch in letzter Zeit sehr selten), ich liebe das Essen, den Wein, das Meer und die reiche Geschichte. In der Slowakei liebe ich die Berge und die Wälder, aber hier fehlt mir das Meer. Es fehlen aber auch viel wesentlichere Dinge, wie zum Beispiel eine politische Kultur, ein funktionierendes Gesundheits- oder Schulwesen, aber auch Empathie und Wohlwollen. Stattdessen haben wir Korruption und Fremdenfeindlichkeit, sozusagen wie Sand am Meer. Ich habe zum Glück bisher noch nie Diskriminierung auf Grund meiner libanesischen Wurzeln erlebt. Und an die ewige Fragerei wegen meines ungewöhnlichen Namens habe ich mich längst gewöhnt. Immer erkläre ich ihn gern, gelegentlich würze ich das mit der Legende von Omar und Fatima, die mit dem Brunnen auf der Burg von Trenčín verbunden ist. Wer weiß, wie das mit solchen Bonmots wäre, wenn man mir die Tatsache, dass ich „anders“ bin, auch ansehen würde.
Ich glaube, dass mich viele Dinge, die mich an der Slowakei ärgern, auch im Libanon ärgern würden. Letzten Endes haben aber beide Länder gemeinsam, dass sie nicht perfekt sind. So wie kein Land auf der Welt. Nur geht es mancherorts den Menschen besser, woanders hingegen kann man ihr Dasein leider kaum Leben nennen. Ich habe mich entschieden, in der Slowakei zu leben. Ich bin hier verwurzelt, habe Freunde, eine tolle Arbeit, viele Möglichkeiten, mich zu verwirklichen. Aber wenn ich im Libanon zur Welt gekommen wäre und dort den Großteil meines Lebens verbracht hätte, würde ich vielleicht lieber dort leben wollen. Auch wenn ich mir das angesichts der aktuellen komplizierten ökonomischen und politischen Lage und der Situation der Flüchtlinge nur schwerlich vorstellen kann … Ich bin in der glücklichen Lage, die Wahl zu haben. Die meisten haben sie allerdings nicht. Ich bin traurig, dass wir in der Slowakei, einem Land, aus dem noch vor dreißig Jahren viele geflohen sind, nicht einmal ein paar Hundert Menschen aufnehmen wollen, die sicher lieber in ihrer Heimat geblieben wären, als vor der Gefahr zu fliehen, dass sie zu Hause umgebracht werden. Im Gegensatz dazu hat der von seiner Fläche her fünfmal kleinere Libanon weltweit die größte Zahl von Flüchtlingen pro Einwohner aufgenommen …
Ich freue mich, dass Beirut dank des Goethe-Instituts wenigstens symbolisch für ein paar Abende nach Bratislava kommt und ich die Möglichkeit habe, neue, interessante Menschen aus der Kunstsphäre kennenzulernen. Hoffentlich werden das auch die zu schätzen wissen, die den Libanon nicht kennen und nicht Arabisch sprechen. Das Schöne an der Kunst ist, dass sie eine universelle Sprache spricht. Aber wenn wir uns nicht einmal mehr in dieser Sprache verstehen, bleibt uns kein Land auf der Welt, wohin wir fliehen könnten.
Liebe geht durch den Magen, also glaube ich, dass der Libanon, wenn schon mit nichts anderem, dann doch wenigstens mit seiner großartigen Küche die Slowaken begeistern kann. Oder damit, dass man unter günstigen Bedingungen an ein und demselben Tag in den Bergen Ski fahren und im Meer baden kann. Ich hoffe aber, dass die beiden Länder, die einander so unbekannt sind, auch andere gemeinsame Themen finden können, als nur mit vollem Magen über das Wetter zu reden.
Omar Mirza