Bibliotheken in Deutschland
Vielfältig. Kooperativ. Bedroht?
Fast achttausend Einrichtungen, von der kleinen Stadtbücherei bis zur Nationalbibliothek: Das deutsche Bibliothekssystem beeindruckt durch seine Vielfalt. Doch knappe Kassen und fehlende Strukturen machen sich bemerkbar.
Mehr als 30 Millionen Medieneinheiten, und täglich kommen eintausend neue hinzu: Die Deutsche Nationalbibliothek (DNB) mit ihren Standorten in Frankfurt am Main und Leipzig hat den Auftrag, alle deutschsprachigen Medien seit 1913 zu sammeln. Sie ist eines der Aushängeschilder des deutschen Bibliothekswesens – und doch eignet sie sich nicht, dieses zu charakterisieren. Denn die Nationalbibliothek wird vom Bund finanziert, in Deutschland sind Bildung und Kultur aber Ländersache.
Ein wesentliches Merkmal und mit ein Grund für die Vielfalt der deutschen Bibliothekslandschaft ist ihr dezentraler Aufbau. In Deutschland gab es nie einen Zentralstaat, der – wie etwa in Frankreich – Bildung und Kultur in der Hauptstadt gebündelt hätte. Stattdessen gab es kleinere und kleinste Territorien, in denen eine Vielzahl unabhängiger Büchereien entstehen konnte.
BUND UND LÄNDER IN VERANTWORTUNG
Im Jahr 2015 zählte die Deutsche Bibliotheksstatistik (DBS) 7.877 Bibliotheken, inklusive aller Zweigstellen sind es sogar fast zehntausend. Die deutschen Kommunen und Landkreise unterhalten gemeinsam etwa 3.700 Bibliotheken, darunter öffentliche Büchereien, Kinder-, Jugend- und Schulbibliotheken, Bücherbusse, Musikbibliotheken, Blindenbibliotheken, Gefangenen-Bibliotheken und Patienten-Büchereien. Fast 3.900 werden von den Kirchen finanziert.
Neben den öffentlichen gibt es in Deutschland etwa 250 wissenschaftliche Bibliotheken, die größtenteils von den Ländern getragen werden. Der Bund unterhält dagegen nur wenige, darunter die DNB und die Bibliothek des Deutschen Bundestags.
Mit laut DBS 218 Millionen Besuchen jährlich zählen Bibliotheken zu den beliebtesten Kultureinrichtungen in Deutschland – auch, weil sie einen freien Zugang zu Informationen sichern. Zehn Millionen aktive Nutzer haben im Jahr 2015 fast 450 Millionen Medien entliehen. Der Bestand umfasste insgesamt 375 Millionen Medien.
Von nationaler Bedeutung sind neben der DNB die Staatsbibliothek zu Berlin und die Bayerische Staatsbibliothek in München, die beiden zentralen Universalbibliotheken in Deutschland. Auch die auf Sammlungsschwerpunkte spezialisierten drei zentralen Fachbüchereien tragen zur überregionalen Versorgung mit Literatur bei: die Technische Informationsbibliothek in Hannover, die Deutsche Zentralbibliothek für Medizin in Köln und Bonn und die Deutsche Zentralbibliothek für Wirtschaftswissenschaften in Hamburg und Kiel.
Kooperationen in allen Bereichen
Anders als in zwei Dritteln der übrigen europäischen Staaten gibt es in Deutschland kein nationales Gesetz, das die Finanzierung der Bibliotheken sichern und deren Unterhalt als Pflichtaufgabe der Kommunen vorschreiben könnte. Nur mit Mühe konnten Landesbibliotheksgesetze in Schleswig-Holstein, Thüringen, Hessen und Sachsen-Anhalt verabschiedet werden. In Nordrhein-Westfalen wird im Jahr 2016 darüber noch beraten.
Durch die dezentrale Organisation fehlen starke bundesstaatliche Strukturen und Institutionen, die die Entwicklung der Büchereien steuern und ihre Interessen vertreten könnten. Kooperationen sind daher in allen Bereichen unerlässlich: beim Bestandsaufbau etwa, bei der Katalogisierung oder beim überregionalen Leihverkehr.
Lebendiges Verbandswesen
Die deutschen Bibliothekare haben sich in einem lebendigen Verbandswesen organisiert. In den Personalvereinen Berufsverband Information Bibliothek (BIB) und Verein Deutscher Bibliothekarinnen und Bibliothekare (VDB) haben sich die Angestellten im Bibliothekswesen zusammengeschlossen. Der Deutsche Bibliotheksverband (dbv) vertritt die Institutionen. Vereint sind die Verbände im gemeinsamen Dachverband Bibliothek und Information Deutschland (BID), dem auch das Goethe-Institut und die ekz.bibliotheksservice GmbH (ekz) angehören.
Fast alle wissenschaftlichen Bibliotheken arbeiten in sechs regionalen Verbünden zusammen. Diese führen unter anderem einen gemeinsamen Verbundkatalog mit allen Medien der beteiligten Einrichtungen und bieten die Fernleihe für am Ort nicht verfügbare Medien an. Einen nationalen Verbundkatalog gibt es in Deutschland nicht. Dessen Aufgaben übernimmt der Karlsruher Virtuelle Katalog, der die Datenbanken von mehr als 70 regionalen und internationalen Verbundkatalogen sowie vom Online-Buchhandel durchsucht.
Mangel an Mitteln, aber viele Ideen
Seit Beginn des Jahrtausends zählt die Deutsche Bibliotheksstatistik jedoch etwa 1.800 Bibliotheken weniger als noch im Jahr 2000. Viele Häuser kämpfen mit herben Einschnitten im Budget. Aus dem aktuellen Bericht zur Lage der Bibliotheken des dbv aus dem Jahr 2016 geht hervor, dass 35,9 Prozent der befragten Institutionen den Ausbau digitaler Angebote mit dem bestehenden Budget für nicht möglich halten. Fast jeder zweiten Bibliothek fehlt Geld für zusätzliches Personal.
Kürzungen im Budget, Stelleneinsparungen und das Aufkommen neuer Medien: Die Rahmenbedingungen haben sich geändert. Die Reaktionen darauf sind vielschichtig. So sehen neue Bibliothekskonzepte häufig einen Ort mit hoher Aufenthaltsqualität vor. Lesecafés und sogenannte Makerspaces, in denen die Nutzer mit neuen Technologien – etwa 3-D-Druckern oder Virtual-Reality-Brillen – experimentieren können, sind heute keine Seltenheit mehr. Bibliotheken setzen zunehmend auch auf digitale Medien und bieten eine Vielzahl von Veranstaltungen für unterschiedliche Zielgruppen an. Die Herausforderung des 21. Jahrhunderts ist klar: Es geht darum, die Vielfalt und die Bedeutung der Bibliotheken in Deutschland zu erhalten.
Engelbert Plassmann (u.a.): Bibliotheken und Informationsgesellschaft in Deutschland. Eine Einführung. 2. Aufl. Wiesbaden, 2011.