Bibliotheken am Goethe-Institut
Von smarten Oasen, Gameboxen und fahrenden Büchern

Sprachschülerinnen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Kairo
Die Bibliothek als Lern- und Kommunikationsraum: Sprachschülerinnen in der Bibliothek des Goethe-Instituts Kairo | Foto (Ausschnitt): Goethe-Institut/Bernhard, Ludewig

Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts, gibt einen umfassenden Einblick in die Bibliotheks-Arbeit des Goethe-Instituts vor dem Hintergrund des globalen gesellschaftlichen Wandels. Dieser Beitrag erschien zuerst im Juni 2018 in der Festschrift „Kooperative Informationsstrukturen als Chance und Herausforderung” für Thomas Bürger zum 65. Geburtstag.

Das Jahr 1995 stellte für das Goethe-Institut eine Zäsur dar: Der Aufbruch in das digitale Zeitalter begann für das weltweit tätige deutsche Kulturinstitut mit vorsichtigen und zarten Versuchen einer Internetpräsenz. War diese zunächst vor allem auf das „Wo? Wer? Was? und Wann?“ der Kulturveranstaltungen und Sprachkurse beschränkt – also letztlich ein Mittel der Öffentlichkeitsarbeit, so wurde schnell klar, dass das Web auch als tatsächliches Wirkungsinstrument der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik nutzbar gemacht werden kann. Es folgten aber zunächst durchaus lebhafte Debatten darüber, was wir uns alles ersparen können, wenn wir künftig nicht mehr nur analog, sondern vor allem und verstärkt digital auftreten: Wurden so zunächst eigene gedruckte Produkte auf den Prüfstand gestellt und dann in erheblichem Maße eingestellt, erreichte die Diskussion bald auch die über 100 Bibliotheken, die das Goethe-Institut auf den fünf Kontinenten pflegte. Recht so, sagten viele, die vermuteten, dass die Goethe-Bibliotheken mit üppigen Medienbeständen von Schiller bis Böll ihre beste Zeit hinter sich haben, denn in absehbarer Zeit sei ja alles im Netz zu haben. Recht so, sagten auch die, die den Auftrag des Goethe-Instituts, „ein umfassendes und aktuelles Deutschlandbild zu vermitteln“ ausschließlich dem eigenen redaktionellen Onlineangebot von InterNationes und Goethe-Institut überlassen wollten. Nein, sagten die Kritiker, die begannen ihre Stimme zu erheben und die auch in Bibliotheken weiterhin mehr vermuteten als lange und verstaubte Regale voller Klassiker.
 

Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts
Klaus-Dieter Lehmann, Präsident des Goethe-Instituts | Foto: Herlinde Koelbl
In der langen Geschichte von Bibliotheken hat es immer wieder technische Transformationen gegeben. Keine aber war so radikal wie die digitale Transformation. Bei den digitalen Prozessen und Publikationen geht es um mehr als nur um Sichtung, Auswahl und Verwaltung, es geht um Sicherung des geistigen Eigentums, um uneingeschränkte Zugänglichkeit, um transparente Prozesse, die nicht nur durch marktwirtschaftliches Denken bestimmt werden dürfen. Entscheidend wird es sein, für die Öffentlichkeit und auch für die kulturellen und wissenschaftlichen Einrichtungen, die Vorzüge des digitalen Mediums so mit den Standards der bisherigen materiellen Speicher zu verbinden, dass unser kulturelles Gedächtnis öffentliches Gut bleibt.
 
Digitale Publikationen haben attraktive Eigenschaften: unter anderem flexibler Zugriff, Kombinierbarkeit von Text, Bild und Ton, leichte Aktualisierbarkeit und Interaktivität. Es gibt keinen Grund, das Medium auszuschlagen oder sich zu verweigern. Dafür hat es zu viele interessante Möglichkeiten. Digitale Abstinenz seitens der Nutzer lässt sich letztlich auch gar nicht durchsetzen. Die Gefahren sind nicht die Folgen des Mediums, sondern das Ergebnis eines Mangels an verantwortlichem Umgang. Die pluralistischen Strukturen auf der Angebotsebene bieten neue Freiheitsgrade: nicht nur den Einflüssen von Technik und Ökonomie zu folgen, sondern die jeweiligen spezifischen Qualitäten des jeweiligen Mediums zu erkennen und zu nutzen. Das sollte die Leitlinie sein.
Im Jahr 2017 verzeichnet das Goethe-Institut über 34 Millionen Besuche auf seinen Webseiten und eine Million Besuche in seinen immer noch 100 Bibliotheken. Es hatten wohl beide Seiten recht – die Skeptiker und die Befürworter des digitalen Wandels.
 
Die neue Technologie hat also die bewährten Traditionen nicht ersetzt, so wie im 20. Jahrhundert das Fernsehen das Radio nicht ersetzt hat und wie heute Streaming-Dienste nicht das Fernsehen zu festen Zeiten ersetzen, auch wenn der eine oder andere bereits in Not um Hilfe ruft. Die neue Technologie hat aber zu einem grundlegenden Wandel geführt – einem Wandel unseres medialen Konsumverhaltens, unseres Lernverhaltens und der Formen der Erstellung und Erschließung von Inhalten aller Art. Die Digitalisierung bietet für das Goethe-Institut und die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik große Chancen und Herausforderungen, sie stellt dabei aber nicht grundsätzlich infrage, dass eine physische Präsenz vor Ort – in diesem Fall an 160 Orten weltweit – verzichtbar wird. Sie ändert allerdings die Form und die Funktion dieser physischen Präsenz.
 
Die Förderung der Kenntnis der deutschen Sprache, des internationalen Kulturaustausches, der Zugang zu Bildungsangeboten und die Vermittlung deutschlandbezogener Information sind die Kern- und Satzungsaufgaben des deutschen Kulturinstituts. Seit dem Zäsurjahr 1995 haben digitale Angebote dazu beigetragen, die Reichweite des Angebots und damit deren Wirkungsradius zu erweitern, die Verfügbarkeit vieler Angebote zeitlich unabhängig zu machen und in völlig neue dialogische Formen mit unseren Partnern und Kunden zu treten.
 
Präsenzkurse bestimmen weiterhin das Kerngeschäft der Deutschkurse, Onlinekurse und hybrid angelegte Kurse verzeichnen aber jährlich zweistellige Zuwachsraten. Wurden bis vor wenigen Jahren empfindliche und schwere 35-mm-Filmrollen für die zahlreichen deutschen Filmfestivals versandt, so stehen heute mit Digital Cinema Packages preiswerte, sichere und leicht kopierbare Zugänge zur Verfügung. War früher Unterrichts- und Seminarmaterial am Standort zu erstellen oder in die letzten Winkel der Welt zu versenden, steht es heute per Klick für alle und jederzeit zur Verfügung. Das Goethe-Institut veranstaltet inzwischen Moderated-Open-Online-Kurse, verfügt mit „Deutsch für Dich“ über eine Lerner-Community mit bereits 300.000 aktiven Mitgliedern, hat „Digitale Klassenbücher“ und „Lernplattformen“ zum weltweiten Standard erhoben und beteiligt sich an der „Digital Concert Hall“ in Kooperation mit den Berliner Philharmonikern. Mehr als 3.000.000 Fans und Followers begleiten und kommentieren die Aktivitäten in den sozialen Medien. Die Perspektiven sind dabei noch längst nicht ausgeschöpft und reichen von Video-on-Demand-Angeboten über digitale Deutschprüfungen hin zu „Social Reading“ und gar „Social Translating“, dem kollaborativen Übersetzen von Texten auf Onlineplattformen.
 
Das Goethe-Institut war gut beraten, 2013 eine zukunftsweisende Digitalstrategie aufzustellen, die – bei aller Spekulation über die nächste und vermutlich wieder disruptive digitale Technologie – das Thema in die Mitte der Organisation brachte und damit den nötigen Innovationsschub nach innen wie nach außen begleitete.
 
Das Goethe-Institut war ebenfalls gut beraten, für sein weltumspannendes Netzwerk an Bibliotheken zeitgleich eine neue Konzeption zu beschließen, die diese zwar nicht in ihrem Kern, aber doch in wesentlichen Funktionen neu aufzustellen hatte. Dramatisch formuliert mag man es rückblickend auch so sehen: Nur durch einen grundlegenden Wandel war es möglich, die Bibliotheken zukunftsfähig zu machen. Als Präsident des Goethe-Instituts, der aus der Buchwelt kommt und sich ihr nach wie vor zugehörig fühlt, möchte ich das mit einem Zitat von Johann Wolfgang von Goethe unterstreichen: „Nur was sich ändert, bleibt.“

Dieser Wandel sei an einigen Themen und Beispielen skizziert:

Vom Raum der Medien zum Raum der Nutzer

Hatten die Bibliotheken des Goethe-Instituts bis in die 1990er-Jahre hinein ein Quasimonopol auf „Zugang zu Informationen über Deutschland im Ausland“, so haben sie dies im Zuge der Digitalisierung eingebüßt. Man muss nicht mehr in eine Goethe-Bibliothek gehen, um sich über Bundestagswahlen, Buchpreis oder Beuys zu informieren, man kann diese Information auch woanders abrufen. Waren unsere Angebote bis dato umfassend und eher unspezifisch, so setzte eine Tendenz ein, thematische Schwerpunkte zu setzen, Bestände zu konzentrieren und vor allem: Platz zu schaffen. Die langen Gänge und hohen Regale wichen einem neuen Bewusstsein für Aufenthaltsqualität. Und Aufenthalt sollte mehr sein als der kurze Besuch und der Gang zur Ausleihtheke. Beispielhaft sei auf das Goethe-Institut in Bratislava verwiesen, wo die Trennung von lieb gewonnenen Altbeständen sicher schmerzhaft war, wo aber der frei gestellte Raum nun als Kino, Café und Ausstellungsfläche dient, wo erstmalig auch das Grundprinzip jeder Bibliothek – das Teilen und Tauschen – auf Dinge des Alltags ausgeweitet wurde – auf eine Bibliothek der Dinge. Das integrierte Konzept führte hier zu einem Publikumsaufschwung und einer erheblichen Senkung des Altersdurchschnittes.

Kollaboratives Lernen und Arbeiten ermöglichen

Der Besuch einer Bibliothek soll zum Verweilen einladen, zur Nutzung des Raums nicht allein im stillen Studium, sondern ebenso zum lebhaften Austausch, zu Workshop und Labor, zu Lesung und Seminar. Um dies mit der Kernfunktion der Bibliothek in Übereinstimmung zu bringen, sind zeitliche und räumliche Zonierungen nötig, die ein friedliches Nebeneinander ermöglichen, vielleicht auch positive Übersprungeffekte erzeugen. Hier hilft gleichfalls die digitale Technik: Die flächendeckende Einführung von RFID und Selbstverbuchung etwa erlaubt die erhebliche Verlängerung von Öffnungszeiten und damit die breitere Nutzung der multifunktionalen Bibliothek.
 
Die im Sommer wieder eröffnete Bibliothek des Goethe-Instituts in Johannesburg treibt dies auf die Spitze. Ohne die Funktion „Library“ zu gefährden, tritt neben diese Funktion eine Zone mit der Trendbezeichnung „Hub“: Sie bietet kreativen Entrepreneurs die Möglichkeit, sich für sechs Monate einen Platz in einer inspirierenden Umgebung zu sichern. Und neben den Hub tritt wiederum die Gamebox: Hier können Besucher aktuelle digitale Computerspiele kennenlernen und ausprobieren. Eine kuratierte Auswahl an Spielen aus Deutschland und Südafrika wird dort dauerhaft angeboten und kontinuierlich erweitert. Technische Ausstattungen wie Ultra-HD-Bildschirm, Playstation, Xbox- und Switch-Konsolen und Virtual-Reality-Brillen bieten ideale Voraussetzungen, sich auf neue Spiele und neue Erfahrungen einzulassen. Ein besonderer Schwerpunkt wird auf die Präsentation von Projekten unabhängiger Entwickler und von Gaming-Startups gelegt.
 

Im Zentrum des Geschehens 

Wenn also die Bibliotheken sich in die Lage versetzen, neue Funktionen zu übernehmen, haben sie die Chance, „ins Zentrum“ des Geschehens zu rücken. Sie sind nicht mehr der marginalisierte Raum, sondern die zentrale Spielfläche eines Instituts, die offen und frei zugänglich ist, die sich thematisch engagiert und mit anderen Funktionen des Instituts in Beziehung setzt.
 
Dies macht das Goethe-Institut in Prag zum programmatischen Ansatz: Die in Kooperation mit der Zentralen Landesbibliothek in Berlin gestalteten Themenräume sind durch ihren Ausstellungscharakter zentrales Element einer Annäherung an Themen und Genres wie „Flucht“, „Lyrik“ oder „Science Fiction“. Während zu einem jeweiligen Thema Filme gezeigt, Diskussionen geführt und Leselisten erstellt werden, führt der Themenraum dreidimensional und synästhetisch weiter in die Tiefen des Raumes. Dies tut er natürlich durch gleichzeitige Präsentation im physischen wie im digitalen Raum.

Der Ort

Die Bibliothek ist wieder „der Ort“ geworden: ein Frei- und Dialograum, ein Treffpunkt, ein Ort einer geistigen Gemeinschaft. Wer in Mumbai oder Jakarta zwischen Wohn- und Arbeitsort stundenlang unterwegs ist (oder im Stau steht), freut sich, mit einer frei zugänglichen Bibliothek zwischen den beiden Orten Zeit für sich selbst zu gewinnen, diese zu nutzen, um sich mit Gleichgesinnten auszutauschen, und selbstbestimmt zu sein. Die Bibliotheken der Goethe-Institute in Indien – Anfang der 2000er-Jahre zunächst geschlossen – wurden erfolgreich wieder eröffnet, zum einen, da sie als Lernort für die immer zahlreicheren Deutschlernenden als unverzichtbar angesehen wurden, aber auch, weil sie genau den Ruhepunkt im urbanen Getriebe darstellen, den die Stadt andernorts nicht bietet. Die Bibliothek selbst trägt damit ein wenig zur Entwicklung des urbanen Raums bei – und führt ganz nebenbei Menschen zum Goethe-Institut, die auf andere Weise diesen Weg nicht gefunden hätten. Diese Offenheit, diese Angebotsbreite, die Anregungen und Kontakte bietet, ist in unserer Zeit der Flüchtigkeit ein gesellschaftlicher Anker.
 
Einen Ort möchte ich dabei besonders herausstellen. Es ist das neu gestaltete Goethe-Institut in Peking, ursprünglich eine Industriehalle zur Produktion für Teile zur Funkkommunikation. Es eröffnete 2015 im Künstlerviertel 798 und ist, umgeben vom pulsierenden Leben von Kunst und Kultur, ein öffentlicher Raum für den Austausch, offen für Begegnungen und Veranstaltungen. Ist es nicht von symbolischer Bedeutung, dass ein Ort der technischen Kommunikation umgewidmet wird zu einem realen Ort der menschlichen Kommunikation, zum deutsch-chinesischen Kulturdialog? Nach 27 Jahren Goethe-Institut in China ist erstmals in großzügiger Weise der Ort entstanden, der mit der Bibliothek als Zentrum ein differenziertes Angebot machen kann und das in einer beispielhaften modernen Innenarchitektur. Gleichzeitig ist der Ort eine Technikmaschine mit allen Möglichkeiten zur Unterstützung für den Dialog von Wissenschaft und Kultur. Wang Hui, einer der herausragenden chinesischen Intellektuellen, Professor für Literatur und Geschichte an der Tsinghua Universität Peking, hat es so ausgedrückt: „Ich wünsche mir einen neuen öffentlichen Raum, in dem Intellektuelle aus China und Deutschland zusammenarbeiten können. Dazu brauchen wir ein gemeinsames Wissen. Wir müssen durch die Debatten einen gemeinsamen Grund finden, was nicht bedeutet, ohne Differenzen.“ Diesen Ort haben wir geschaffen!

Den Weg durch den digitalen Dschungel finden

Wenn die Digitalisierung als expansive Bewegung in Raum und Zeit beschrieben werden kann, so führt doch auch ein Weg zurück aus dem digitalen in den physischen Raum. Wir machen „das Digitale sichtbar“ und helfen, Wege durch den digitalen Dschungel zu bahnen. Hier sind zunächst Beratungsleistungen zu all dem zu nennen, was nicht über Google und Co. zu finden ist. Der Zugang zu Pressedatenbanken, zu Open-Access-Quellen und spezialisiertem Wissen – oft sind es nur die Goethe-Institute und ihre Bibliotheken, die einen solchen Service bieten. Eine digitale Grundausstattung, die auch das kollaborative Arbeiten vor Ort ermöglicht, ist dabei ebenso wünschenswert wie aktives Engagement der Bibliothek, um Medien- und Informationskompetenz von Kunden und Partnern zu steigern. Wer will, mag dies mit dem Motto „From Collection to Connection“ belegen, wie es das Goethe-Institut in Warschau derzeit tut.

Beispiel sein

Betritt man das neu gebaute Goethe-Institut in Kairo, so fällt neben zahlreichen Aushängen zu „Deutschkursen nun auch in Nachtschicht“ und „Zusätzlichen Prüfungsterminen am Wochenende“ der Aushang auf, der selbstbewusst zum Besuch der „modernsten Bibliothek Ägyptens“ auffordert. Dies kann ebenso eine Funktion des Goethe-Instituts sein: durch Verbindungsarbeit und Dialog und vor allem durch Beispiele guter Praxis Impulse in die lokalen Szenen zu geben, anzuregen, etwas anders zu machen als vorher – aber dabei immer gleichrangig mit dem Partner zu bleiben. Die „Smarte Oase“ (Deutschlandfunk Kultur, 17. März 2017) in Kairo tut dies exemplarisch und lebt es vor. Sie bietet einen auf die Bedürfnisse der Lerner ausgerichteten Medienbestand in attraktiver Präsentation, flexiblen und frei nutzbaren Raum, aktuelle digitale Ausstattung, unterstützende Onlineangebote und Fortbildungsprogramme für Bibliothekarinnen und Bibliothekare des Landes.

Flexibel sein, Beiboote erlauben

Es hat sich hierbei bewährt, in einem komplexen weltweiten Netzwerk neben festen Standards (ein Bibliotheksmanagementsystem, ein Standard für digitale Ausstattung) möglichst viel Kompetenz dort aufzubauen und zu belassen, wo sie am besten aufgehoben ist: vor Ort! Im internationalen Kontext sind funktionale wie ästhetische Fragen nur standortspezifisch zu beantworten, Nutzergewohnheiten und -bedürfnisse nur vor Ort zu ermitteln. Eine Neuausrichtung hat dabei immer auch mit Kompetenzaufbau zu tun, mit Motivation und Begeisterung, die getragen werden muss von Kolleginnen und Kollegen, die zumeist lokal verankert sind und lernen müssen, im interkulturellen Dialog zu agieren. Wir brauchen hierbei ebenso den Mut zu experimentieren, Fehler und Erfolge gleichwertig als Lernerfahrung zu verbuchen. So hat das Goethe-Institut in Ramallah erstmalig in einem schwierigen politischen Umfeld seine Medien in einen Bus gepackt, um sie durch die Westbank und den Gazastreifen zu fahren. Inzwischen rollen Goethes Bibliobusse ebenso durch das Niltal, durch Anatolien und den Libanon. In Westafrika haben sich Friseursalons als ideale Stätten für Minibibliotheken und Tauschbörsen etabliert, in Südosteuropa sind dies die „Budki“, in denen neben Büchern auch andere Genussmittel zu haben sind. In Flüchtlingslagern in Jordanien, Nordirak, der Türkei und im Libanon sind es „Ideas Boxes“, mobile Kulturzentren, die neben Puppentheater, Filmvorführung und Leseecke vor allem eines bieten: gleichermaßen digital zu arbeiten, zu stöbern, sich fortzubilden und Kontakt mit der Welt zu haben. Die Innovation kommt von der Peripherie!

Freiraum bieten

Sucht man nach einem Begriff, der die Entwicklungen zusammenfasst, so bietet sich hier „Freiraum“ an. Das Goethe-Institut blickt auf eine lange Erfahrung der Arbeit auch in repressiven Gesellschaften und unter politischem Druck zurück. Oft sind es gerade die Goethe-Institute, die Raum für freien und unzensierten Austausch geben, die Zugänge zu Positionen und Informationen bieten, die außerhalb des geschützten Raumes nicht offen stünden. In Zeiten, in denen Zensur und Repression zunehmen, in denen es vielerorts am nötigen Freiraum fehlt, Gedanken zu erfassen, Inspiration zu erfahren und Erfahrung auszutauschen, ist dies vielleicht die vornehmste Funktion einer Bibliothek des Goethe-Instituts. Lassen wir Goethe selbst zu Wort kommen: „Wir lernen die Menschen nicht kennen, wenn sie zu uns kommen; wir müssen zu ihnen gehen, um zu erfahren, wie es mit ihnen steht.“ Dieses Element eines Dialogs des praktischen Handelns, der auch Antworten gibt, sollte ein unverzichtbarer Bestandteil der Bibliotheken der Goethe-Institute in der Welt sein.

Emanzipation

Nicht zuletzt ist es der vielfältige Zugang zur Bildung, der in und mit der Bibliothek organisiert werden kann. Dabei gilt die besondere Aufmerksamkeit den verbesserten Möglichkeiten für Mädchen und Frauen. Ihre Behinderung beim Zugang zur Bildung ist eklatant. Andrerseits sind sie entscheidend für eine zukunftsfähige Entwicklung. Dieser Schwerpunkt der Förderung gilt besonders für Entwicklungs- und Schwellenländer. Die Friedensnobelpreisträgerin Malala Yousafzai sagte in ihrer Rede vor den Vereinten Nationen: „Ein Kind, ein Lehrer, ein Buch und ein Stift können die Welt verändern.“ Mädchen- und Frauenbildung durch Leseförderung und Wissenserwerb sind deshalb vielfach Programm der Goethe-Institute mit ihren Bibliotheken.

Ebenso spielen inzwischen die digitalen Medien für die Emanzipation von Frauen in diesen Ländern eine wichtige Rolle. „I am Science“ bietet digitale Lernangebote für mobile Endgeräte, sowohl für Basiswissen als auch für qualifizierte Bildung. Südafrika ist derzeit der Fokus für die Wissensvermittlung für Mädchen und Frauen. Es gibt zahlreiche bedeutende Frauen, die Afrikas Länder und Gesellschaften geprägt haben und prägen. Nur wenige von ihnen finden Eingang in weltweit wichtige Wissensdatenbanken wie Wikipedia. Mit dem Projekt „Wiki loves Women“ wollen WikiAfrica und das Goethe-Institut dieses Defizit verringern und haben begonnen, Beiträge von und über Frauen zu initiieren.
 
Diese wenigen Beispiele zeigen, wie neue Technologien kreative und eigenständige Entwicklungen befördern können und wie sie zu stabilisierenden Netzwerken beitragen.

Digitaler Einfluss und Verantwortung

Der Einfluss der digitalen Welt ist zu groß geworden, als dass wir einfach nur zusehen und abwarten können. Dieser Einfluss ändert nicht nur das Publikationswesen, die Bibliotheken, die Zugänglichkeit zur Bildung und die Verfügbarkeit von Wissen. Letztlich werden alle Lebensbereiche davon erfasst. Die Sorglosigkeit, mit der einerseits persönliche Daten verfügbar gemacht werden, und der Zwang, der andrerseits durch den Wandel aller wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Prozesse hin zu ausschließlich digitalen Abläufen entsteht, lassen Alternativen kaum noch zu. Jürgen Habermas spricht von einer Kolonialisierung unserer Lebenswelten. Und in der Tat müssen wir eine mögliche Fremdbestimmung von realen Personen durch digitalen Einfluss in Betracht ziehen.
 
Für Bibliotheken spielt das Internet eine gewichtige Rolle. Zeit und Raum werden überwunden, der Zugang zu umfassenden Wissensbeständen und Literaturpotenzialen wird ermöglicht. Es wird trotzdem kein universales Wissen geben, sondern viele Wissensbestände. Deshalb ist es für Bibliotheken so wichtig, Zugang und Vermittlung gesichert zu ermöglichen. Bibliotheken sollten sich auch in der Verantwortung sehen, die Auswirkungen des digitalen Wandels auf Kultur, Wissenschaft und Gesellschaft immer wieder selbst zu reflektieren. Bibliotheken müssen in der Lage sein, Chancen und Risiken aufgrund der eigenen Kompetenz beurteilen zu können, und als Experte anerkannt sein.
 

Zuerst veröffentlicht: Klaus-Dieter Lehmann (2018). Von smarten Oasen, Gameboxen und fahrenden Büchern. In Achim Bonte, Juliane Rehnolt (Eds.), Kooperative Informationsinfrastrukturen als Chance und Herausforderung: Festschrift für Thomas Bürger zum 65. Geburtstag (pp. 268–276). Berlin, Boston: De Gruyter.

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