Bibliothek und Zivilgesellschaft
Nur mal kurz die Welt retten
„Niemand erwartet von Bibliotheken, die Welt zu retten, aber wir befinden uns in einer ausgezeichneten Position, um genau das zu bewerkstelligen“, sagen Rebecca T. Miller und Rebekkah Smith Aldrich. Im Interview erklären die beiden US-Bibliotheksexpertinnen, warum der Glaube, die Digitalisierung mache Bibliotheken irrelevant, ein Mythos ist.
Viele Menschen sorgen sich um die Zukunft der Bibliotheken und fürchten, dass das Internet Bibliotheken in ihrer klassischen Gestalt und Form überflüssig macht. Ist das so? Und wenn nicht, wie verändert sich die Rolle der Bibliotheken in einer Gesellschaft im Wandel?
Rebekkah Smith Aldrich: Bei Bibliotheken geht es um Menschen, nicht um Gegenstände. Wir sind Bildungsträger, wir sorgen für Zugriffsmöglichkeiten – ganz gleich, auf welche Formate oder Themen. Der Zugang zu unseren Nachbarn, lokalen Experten und öffentlichen Orten des Dialogs wird immer wichtig sein. Die besten modernen Bibliotheken sind lebendige, proaktive Orte, die die Gemeinschaft, für die sie eingerichtet wurden, widerspiegeln und in ihre Arbeit einbeziehen. Bibliotheken, die sich nicht in der Rolle eines Gemeindetreffpunkts sehen, lassen einen der hoffnungsvollsten Aspekte der Zukunft von Bibliotheken außer Acht.
Rebecca T. Miller: Seit der Einführung des Internets halten sich Geschichten über den Niedergang von Bibliotheken hartnäckig – aber dabei handelt es sich im Wesentlichen um Mythen. Der Stellenwert von Bibliotheken ist tatsächlich relativ konstant. Nur die ihnen zur Verfügung stehenden Mittel – die das Bücherangebot ergänzen und die die Zugriffsmöglichkeiten auf revolutionäre Weise demokratisieren – sind nun deutlich vielfältiger, zuverlässiger und spannender. Außerdem sorgen sie für eine beispiellose Zugänglichkeit. Man darf nicht vergessen, dass es öffentliche Bibliotheken waren, die in den Städten der USA für Zugang zu Computern und Schulungen im Umgang mit der neuen Technik sorgten. Und Wissenschaftsbibliotheken lieferten die Ressourcen für Google Books. Es ist falsch, Bibliotheken als Gegenspieler der Technik zu sehen, wo beide doch eigentlich Hand in Hand gehen.
Sie argumentieren, dass keiner von Bibliotheken erwarte, die Welt zu retten, aber diese sich in einer ausgezeichneten Position befänden, um genau das zu bewerkstelligen. Was meinen Sie damit?
Miller: Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie oft jemand zu mir sagte, eine Bibliothek habe ihm das Leben gerettet oder sein Leben geprägt oder ihm bei der Selbstfindung geholfen. Das sind individuelle Erfahrungen. Wenn man bedenkt, wie allgegenwärtig und wichtig Bibliotheken für das Wohlergehen der Gemeinschaft sind, der sie dienen, bekommt man eine Vorstellung davon, welchen Einfluss sie erlangen könnten, wenn sie sich dazu entschlössen, diesen Gemeinschaften dabei zu helfen, ein dringendes Anliegen zu adressieren, wie beispielsweise den Klimawandel.
Smith Aldrich: Denken wir doch nur daran, wie anfällig unsere Welt heute ist. In jedem Sektor – sei es Politik, Technik, Wirtschaft, Umwelt oder Gesellschaft – ringen wir mit Umbrüchen. Diese bringen sowohl neue Möglichkeiten als auch Herausforderungen mit sich, je nach sozioökonomischer Stellung in der Gemeinschaft. Der soziale Zusammenhalt ist entscheidend für das Wohlergehen einer Gemeinschaft in den kommenden Jahrzehnten – unabhängig von den Umbrüchen, denen sie sich gegenübersieht – und Bibliotheken eignen sich ausgezeichnet dafür, den sozialen Zusammenhalt vor Ort zu stärken. Wir können uns lokalen Themen intensiv zuwenden, wir können dabei helfen, Menschen zusammenzuführen, Nachbarn dazu bringen, Multikulturalität anzuerkennen und schätzen zu lernen und dazu beitragen, allen Gehör zu verschaffen. Diese vier Faktoren wurden vom Weltklimarat der Vereinten Nationen als entscheidend für unser Überleben in den kommenden Jahren eingestuft.
Als Bibliotheken müssen wir in das Leben derer, für die wir da sind, in einer authentischen und sinnstiftenden Weise eingebunden sein.
Rebekkah Smith Aldrich
Miller: Bibliotheken haben immer dazu beigetragen, ihre Nutzer und Nutzerinnen und Gemeinden auf die Zukunft vorzubereiten. Uns steht eine Zukunft bevor, die von einem massiven, komplexen Problem bedroht ist – dem vom Menschen verursachten Klimawandel. Als globales Netzwerk von Institutionen mit dem Auftrag, sich dem Informationsbedürfnis zu widmen, können Bibliotheken nach meiner Überzeugung Katalysatoren einer ernstzunehmenden Bewegung für die Schaffung einer nachhaltigeren Gesellschaft werden, wenn sie ihre Arbeit auf dieses Ziel ausrichten.
Smith Aldrich: Als Bibliotheken müssen wir in das Leben derer, für die wir da sind, in einer authentischen und sinnstiftenden Weise eingebunden sein. Das heißt, dass wir den Stellenwert der Bausteine des Lebens begreifen, das heißt, dass wir uns unseres weiteren Umfelds bewusst sind. Eine Bibliothek muss das Anliegen verkörpern, den Mitmenschen zu dienen. Wir sind bedeutungslos, wenn wir nicht verstehen, was die Menschen gerade bewegt oder womit sie sich in Zukunft auseinandersetzen müssen. Wenn wir unseren Nutzern und Nutzerinnen ernsthaft vermitteln wollen, dass uns ihr Wohlergehen am Herzen liegt und dass wir eine zuverlässige Institution sind, die ihr Vertrauen rechtfertigt und mit ihren Steuergeldern sorgsam umgeht, muss es unseren Bibliotheken ein inneres Anliegen sein, sich für ökologische Nachhaltigkeit einzusetzen. Wenn wir sorglos mit natürlichen Ressourcen umgehen, wenn wir nicht benötigte Gegenstände nicht verantwortungsbewusst entsorgen, wenn wir anderen die Auswirkung unseres Handelns auf die Natur nicht nahebringen können, werden wir uns in ein paar Jahrzehnten nur noch der Schadensbegrenzung widmen können. Wir werden in erster Linie stehen, wenn es darum geht, immer mehr Bürgern und Bürgerinnen bei der Bewältigung vorhersehbarer Probleme oder Angelegenheiten zu helfen, auf die wir uns hätten einstellen können.
Sie sind beide in die Nachhaltigkeitsinitiative des Bibliotheksverbands New York involviert. Worum geht es dabei?
Miller: Die Initiative will Bibliotheken in die Lage versetzen, auf den Klimawandel aufmerksam zu machen und dabei ihren Gemeinden voranzugehen. Praktisch gesehen, konzentriert sich die Initiative darauf, Bewusstsein zu schaffen und den Bibliothekaren und Bibliothekarinnen sowie deren Einrichtungen anwendbare Mittel in die Hand zu geben, um sich dieser Aufgabe zu widmen – indem man intern nachhaltig orientiert ist und extern durch nachhaltiges Handeln der Gemeinde als Beispiel dient. Deshalb haben wir das Sustainability Certification (Nachhaltigskeits-Zertifizierungs-) Programm ins Leben gerufen, so eine Art Leitfaden für Bibliotheken zur Orientierung im Umgang mit der Umweltkrise, der wir uns alle gegenübersehen. Wie wir kürzlich im Library Journal berichteten, hat die Hendrick Hudson Free Library in Montrose, New York – eine der ersten, die die Zertifizierung in Angriff nimmt – 289 Solarpanele auf dem Dach eines neuen Anbaus installiert. Sie zeigt die Menge des so erzeugten Stroms im Bibliotheksgebäude an, um den Besuchern und Besucherinnen den Sinn solcher Maßnahmen zu vermitteln.
Bibliotheken müssen bei Gesprächen über die Zukunftspläne ihrer Gemeinden mit am Tisch sitzen und dabei helfen, die gesteckten Ziele zu erreichen.
Rebecca T. Miller
Miller: Sie müssen verständlich machen können, was ihre Einrichtungen bieten und welchen Einfluss sie damit auf die Menschen und Gemeinden haben, denen sie dienen. Und sie müssen Partnerschaften eingehen, um ihrer Arbeit mehr Gewicht zu verleihen. Die Bibliotheken müssen bei Gesprächen über die Zukunftspläne ihrer Gemeinden mit am Tisch sitzen und dabei helfen, die gesteckten Ziele zu erreichen.
Aldrich: Dem möchte ich aus tiefstem Herzen beipflichten. Es ist viel wichtiger, darüber zu reden, warum wir etwas tun, als darüber zu reden, was wir tun. Außerdem glaube ich, um als Führungskraft einer Bibliothek erfolgreich zu sein, muss man sich auf die „drei Es nachhaltiger Bibliotheken“ konzentrieren: Empower, Engage, Energize (befähigen, einbeziehen, aktivieren). Diese drei Handlungen beschreiben, wie Bibliotheksleiter und Bibliotheksleiterinnen an ihre Arbeit herangehen sollten, um ihre Angestellten und die Nutzer und Nutzerinnen zu inspirieren. Ich habe bemerkt, dass die Einstellung, mit der wir anderen begegnen, einen faszinierenden Austausch von Energien freisetzt – wenn unsere Arbeit darauf ausgerichtet ist, andere zu befähigen, einzubeziehen und zu aktivieren, werden sie im Gegenzug das Gleiche für die Bibliothek tun. Ich habe festgestellt, dass das eine „Geheimzutat“ viele erfolgreicher Bibliotheken ist, mit denen ich zusammengearbeitet habe.“
Rebecca T. Miller und Rebekkah Smith Aldrich sind seit Gründung des Projekts Mitglieder des Sustainability Initiative Committee des Bibliotheksverbands New York. Ihr Vortrag auf der Next Library® Conference in Berlin trägt den Titel The Future Won’t Wait: A Library-Led Approach to Sustainability (Die Zukunft wartet nicht: Bibliotheken als Vorreiter der Nachhaltigkeit).
Rebekkah Smith Aldrich | © Rebekkah Smith Aldrich Rebekkah Smith Aldrich ist Coordinator for Library Sustainability (Koordinatorin für die Nachhaltigkeit von Bibliotheken) am Mid-Hudson Library System, New York, wo sie 66 öffentliche Bibliotheken zu Führungs-, Finanzierungs- und Ausstattungsfragen berät. Smith Aldrich schreibt für das Library Journal über Nachhaltigkeit, ist Mitvorsitzende der Sustainability Initiative des Bibliotheksverbands New York, Gründungsmitglied des Sustainability Round Table (Runder Tisch zur Nachhaltigkeit) des US-amerikanischen Bibliotheksverbands ALA und Mitglied im Beirat des Center for the Future of Libraries (Zentrum für die Zukunft von Bibliotheken) des ALA. Sie wurde vom Library Journal zum Mover & Shaker (einflussreiche Person) ernannt und hält landesweit Vorträge über die Weiterentwicklung von Bibliotheken. 2018 erschien ihr neues Buch Sustainable Thinking: Ensuring Your Library’s Future in an Uncertain World.