Orte der Inklusion
„Es liegt noch einige Arbeit vor uns“
Bibliotheken sind mit dem Anspruch konfrontiert, ungleich verteilten Teilhabechancen entgegenzuwirken. Doch nur über Diversität und Inklusion zu reden, wird nicht reichen, meint die Designdirektorin Traci Engel Lesneski.
Von Leonard Novy
Frau Engel Lesneski, die Zukunft der Bibliotheken bereitet vielen Sorgen. Befürchtet wird, dass Bibliotheken in ihrer klassischen Form durch die Digitalisierung obsolet werden. Haben Bibliotheken Ihrer Ansicht nach eine Zukunft?
Bei Bibliotheken ging es immer um die Förderung der Lesekompetenz und des Lernens. Es gibt viele Arten von Bildung und Menschen lernen auf unzählige Weisen. Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts engagiert sich bei allen Aspekten des Wissenserwerbs, in dem sie Menschen hilft, die Fähigkeiten zu trainieren, die ihnen helfen, aufzublühen. Diese Rolle deutet auf eine vielversprechende Zukunft für Bibliotheken hin.
Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion gehören zu den Grundwerten des Bibliotheks-Systems – zumindest in der Theorie. Wie ist aus Ihrer Sicht die allgemeine Situation in der Praxis? In welchem Umfang werden diese Ziele tatsächlich erreicht? Und wo liegen in Sachen Inklusion die größten Herausforderungen?
Viele Berufsstände (inklusive der Bibliothekare) haben die besten Absichten, aber immer noch einiges an Arbeit vor sich. Etwa wenn sie von den Diskussionen über mehr Diversität zur tatsächlichen Umsetzung von Gleichberechtigung und Inklusion in Berufen und Organisation wechseln wollen. Einige Herausforderungen, zumindest in den USA, liegen in den ungleichen sozialen, politischen, kulturellen und organisatorischen Strukturen, die derart eingebrannt sind, dass wir kaum über sie nachdenken und sie noch seltener ansprechen. Weitere Aufgaben liegen in der gemeinsamen Definition von Diversität, Gleichberechtigung und Inklusion und vor allem in dem gemeinsamen Verständnis für den Wert, den Inklusion dieser Arbeit bringt. Bei Bibliotheken zahlt sich ein inklusiver Berufsstand exponentiell aus, da Bibliothekare mit einer so großen Vielfalt an Menschen in Berührung kommen.
Welche Rolle spielt die Umgebung, die Bibliothek als physischer Ort, in diesem Kontext?
Jeder Mensch ist anders. Wir haben unterschiedliche physische Fähigkeiten. Wir nutzen unsere Sinne unterschiedlich. Wir kommen aus verschiedenen ökonomischen Verhältnissen und Kulturen. Wir haben verschiedene Geschlechter, sind nicht im selben Alter. Und doch sind viele Gebäude so gestaltet, als ob wir alle dieselben Bedürfnisse hätten.
Bauliche Gestalter (wie Architekten, Eigentümer, Projektmanager, Politiker) entscheiden darüber, ob sich die Menschen willkommen fühlen und beeinflussen effektiv Gebäude und Flächen mit jeder gefällten Entscheidung. Oft gibt es Entwürfe, die verschiedenen Perspektiven nur oberflächliche Aufmerksamkeit schenken, was unwillkürlich dazu führt, dass jemand ausgeschlossen wird. Bei Bibliotheken, die verschiedensten Nutzern helfen sollen, Bildung zu erwerben und Gemeinschaft zu erleben, ist es wichtig, die Entscheidungen zu hinterfragen, die unabsichtlich bestimmte Teile einer Gemeinschaft daran hindern, die Räume zu nutzen.
Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts ist ein Ort für Menschen, geschaffen, um das Wohlbefinden zu steigern.
Traci Engel Lesneski
Die Gestaltungsqualität und Prominenz aller Gebäude, die Sie angesprochen haben, vermitteln den Stellenwert, den eine Bibliothek für diese Gesellschaften hatte, als sie erbaut wurden. Sie vermitteln ein Gefühl der Bedeutung und Tragweite. Was die Gestaltungsqualität, Langlebigkeit, kulturelle Signifikanz angeht, gibt es in der Bibliotheks-Architektur des 21. Jahrhunderts einige Übereinstimmungen. Es gibt aber auch Unterschiede. Statt Ehrfurcht einzuflößen und formelle Orte der Gelehrsamkeit zu schaffen, zielt die Gestaltung der Bibliothek des 21. Jahrhunderts darauf ab, der ganzen Community zu nutzen und zum Entdecken und Erkunden einzuladen. Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts soll vielfältige Aktivitäten und Bedürfnisse unterstützen. Sie bietet sowohl Räume für individuelles, fokussiertes Arbeiten als auch für gemeinschaftliche Aktivitäten und allem dazwischen. Die Bibliothek des 21. Jahrhunderts ist ein Ort für Menschen, geschaffen, um das Wohlbefinden zu steigern.
Wie entwirft man eine inklusive Bibliothek? Wo kommen Sie als Beraterin ins Spiel?
Die Gesundheit eines jeden Ökosystems hängt von seiner Biodiversität ab. Gleiches gilt für die Gesundheit einer Gemeinschaft. Und so hängt eine Bibliothek, als Reflexion ihrer Community, von ihren Fähigkeiten in Sachen Vielfalt ab. Bibliotheken sollen vielen verschiedenen Menschen dienen. Als Einrichtung für inklusive Organisationen sollten sie so entworfen werden, dass sie der größtmöglichen Schnittmenge von Personen dienen. Menschen erleben Gebäude auf verschiedene Weise, abhängig von ihren eigenen kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und physischen Umständen. Dennoch sind viele Gebäude so entworfen, dass sie nur einem kleinen Teil der menschlichen Bevölkerung nützlich sind. In einigen Fällen ist die Ungleichheit in die bauliche Umgebung eingebaut. Die Grundvoraussetzungen für inklusive Gebäude werden schon im Design-Prozess gelegt. Keine einzelne Person kann hier alle Perspektiven verkörpern. Ein inklusives Gebäude zu bauen, erfordert einen inklusiven Prozess. Unausgesprochene Vorurteile müssen durch offene Dialoge überwunden werden. Während der Planungsphasen müssen Interessensvertreter sicherstellen, dass soviele Menschen wie möglich eine Stimme erhalten.
Jeder von uns hat dasselbe Recht, die Umgebung, in der wir arbeiten und lernen, mitzugestalten und Bibliotheken sollten diesem Wunsch nach individueller Anpassung nachkommen.
Traci Engel Lesneski
Einfache Achtsamkeit bei der Betrachtung der baulichen Umgebung kann den Unterschied zwischen Orten, die Inklusion fördern und denen, die nicht alle Nutzer willkommen heißen, machen. Werden zum Beispiel Unterschiede in der Körpergröße, Alter, Geschlecht, Mobilität, Kulturen und in der Verlässlichkeit unserer Sinne bedacht? Die meisten Merkmale inklusiver Gebäude verbessern gleichzeitig die Räume für die Allgemeinheit. Jeder von uns hat dasselbe Recht, die Umgebung, in der wir arbeiten und lernen, mitzugestalten und Bibliotheken sollten diesem Wunsch nach individueller Anpassung nachkommen. Die erfolgreichsten Gebäudeentwürfe bieten die größte Diversität, in dem sie Wahlmöglichkeiten basierend auf den individuellen Bedürfnissen und dem Wunsch nach individuellen Zuschnitt anbieten.
Dieses Ziel kann schon mit kleinen Modernisierungen, wie bei der Möbelausstattung, erreicht werden. Etwa durch eine Vielzahl von Sitzgelegenheiten, höhenverstellbaren Tischen für die Mitarbeiter und Stammkunden, einer Auswahl von Arbeitsbeleuchtungen. Mit kleinen, privaten Räumen, die eine Vielzahl von Bedürfnissen bedienen, wie zum Beispiel einem beruhigenden Ort für ein Kind mit sensorischen Empfindlichkeiten, einem Gebetsort oder einem ruhigen Ort für jemanden mit einer chronischen Krankheit, kommt man einem öffentlichen, inklusiven Raum schon ein gutes Stück näher. Das aktuell beste Beispiel sind Toilettenräume für Einzelpersonen, die für nicht-binäre Geschlechter, Personen mit eingeschränkter Mobilität, die Unterstützung von einer Pflegekraft brauchen, oder Eltern von Kleinkindern angenehmer sind.
Traci Engel Lesneski | Foto (Ausschnitt): privat Traci Engel Lesneski ist Leiterin des US-amerikanischen Architekturbüros MSR. Ihre Arbeit fokussiert sich auf die Gestaltung von Bibliotheken und Räumen der Wissensvermittlung. Sie steht für einen integrativen Design-Ansatz, in dem Wohlbefinden, Produktivität, Ästhetik und Freude gleichberechtigt nebeneinander stehen. Aktuelle Projekte unter ihrer Federführung beinhalten unter anderem ein Zentrum visueller Kultur, Kunst und Medien für das Haverford College in Pennsylvania und die Renovierung der Tulsa Central Library in Oklahoma. Engel Lesneski hält regelmäßig Vorträge für Bibliothekskonferenzen wie IFLA, ALA und NEXT Library. Sie ist Verwaltungsratsmitglied der IFLA’s Library Buildings und Equipment Section, Vorsitzende der American Library Association’s Architecture for Public Libraries Committee und wurde kürzlich zur ALA-Arbeitsgruppe für Nachhaltigkeit berufen.