Lernort Bibliothek
„Kostenloses Wissen für alle. Punkt“
Öffentliche, frei zugängliche Begegnungsorte werden immer seltener, und vielen Menschen bleibt der Zugang zu hochwertiger Bildung versagt. Nico Koenig und Grif Peterson von der Peer 2 Peer University sprechen über das Potenzial von Bibliotheken für die Stärkung des Gemeinwesens und als Gemeinschaftsräume für lebenslanges Lernen.
Es hält sich hartnäckig die Ansicht, das Internet mache Bibliotheken überflüssig. Welchen Platz nehmen Ihrer Meinung nach Bibliotheken in der digitalen Gesellschaft ein?
Grif Peterson: Wir leben gerade in frustrierenden Zeiten. Es gibt unzählige Organisationen und Projekte, die das Internet und die Digitaltechnik insgesamt als ein Mittel der dauerhaften Demokratisierung und Befreiung propagieren. Gleichzeitig stehen viele dieser Organisationen für undemokratische, unfreie Geschäftsansätze und Besitzverhältnisse. Sie spiegeln die neoliberalen Geschäftsmodelle wider, die die Welt außerhalb des Internets dominieren. Wenn man die sogenannten disruptiven Konzepte dieser Organisationen und Firmen näher betrachtet – ob es sich um Blockchain, Online-Lernangebote oder App-Entwicklung handelt –, erkennt man, dass sie in der Mehrzahl der Fälle einfach eine digitale Version bestehender Machtstrukturen und Lebensweisen darstellen, anstatt mithilfe der Digitalisierung alternative Konzepte hervorzubringen. Wir schlussfolgern daraus, dass On- und Offline-Plattformen, die der derzeitig wachsenden Ungleichheit etwas entgegensetzen wollen, gepflegt, geschützt und nachgebildet werden müssen.
Hier kommen Bibliotheken ins Spiel. Zumindest in Nordamerika sind Bibliotheken und religiöse Einrichtungen im Prinzip die einzigen Orte, die wirklich jeder nach Belieben aufsuchen kann, ohne belästigt oder dazu gedrängt zu werden, etwas zu kaufen. Für mich ist es daher ganz entscheidend, die Rolle, die einer öffentlichen Bibliothek in der modernen Gesellschaft zukommt, anzunehmen und anzuerkennen. Was das Lernen betrifft, so suchen wir derzeit nach Mitteln, um den Bildungsauftrag von Bibliotheken in den Kommunen durch Lernprogramme für die Bevölkerung vor Ort umzusetzen, die von den Kommunen selbst geleitet werden. Programme, die ohne Genehmigung, Lizenzierung oder Gastdozenten auf den Weg gebracht werden können. Es ist wichtig, die Ergebnisse dieser gemeinsamen Lernerfahrung zu dokumentieren, denn das stärkt die Vorstellung, dass jeder sowohl Wissen konsumiert als auch Wissen erzeugt.
Welche Rolle können und sollten Bibliotheken im Hinblick auf die Bildung einnehmen?
Nico Koenig: Bildungsprogramme sind schon seit langem Bestandteil der Bibliotheksarbeit, doch die Zukunft von Bibliotheken als Bildungszentren ist nicht klar definiert. Derzeit herrscht eher die Vorstellung, dass man in einer Bibliothek nur zum Vergnügen lerne. Für einige mag das zutreffen. Aber wir wissen, dass Bibliotheken anderen dabei helfen, lesen zu lernen oder Sprachkenntnisse, komplexe Fähigkeiten und eine sinnstiftende Arbeit zu erwerben. So erhalten sie das Rüstzeug für eine Zukunft, die sie sich wünschen! Außerdem bereiten Bibliotheken ähnlich wie Universitäten die Lernenden auf einen höheren Bildungsabschluss vor, beide haben Weiterbildungsprogramme im Angebot und manchmal halten an beiden Orten dieselben Lehrkräfte die gleichen Vorlesungen! Natürlich sind den Bibliotheken Grenzen gesetzt. Es ist unwahrscheinlich, dass sie sich der Forschung widmen oder eine Berufsschule gründen, aber selbst das ist nicht in Stein gemeißelt. Daher gilt unser Statement „Die Universität ist tot, lang lebe die Bibliothek“ als eine Einladung, die Möglichkeiten und Ausrichtungen von Bibliotheken in einem breiteren Kontext auszuloten. Dabei sind sie nicht als Nebenschauplätze anzusehen, sondern als Wortführer im Bereich der Bildung.
„Bibliotheken als kommunale Zentren können viel mehr tun, als ihren Nutzerinnen und Nutzern den Weg zu einem Buch oder einer Website zu weisen, die ihre Fragen beantwortet.“
Grif Peterson: Anders als der Auftrag vieler Universitäten ist der Auftrag von Bibliotheken fundamental: Kostenloses Wissen für alle. Punkt. Mit unserer Arbeit wollen wir Bibliotheken ermutigen, sich das grenzenlose Potenzial ihres Auftrags zunutze zu machen und zu erkennen, dass Bibliotheken als kommunale Zentren viel mehr tun können, als ihren Nutzerinnen und Nutzern den Weg nur zu einem Buch oder einer Website zu weisen. Zwar haben viele Bibliotheken schon lange deutlich mehr im Angebot. Doch insgesamt ist noch viel Aufklärungsarbeit nötig, damit die Öffentlichkeit den Spielraum von Bibliotheken erkennt.
Wie gestaltet sich das praktisch? Und welche Rolle spielt Ihre Organisation Peer 2 Peer University dabei?
Grif Peterson: Zunächst legen wir den Bibliotheksangestellten ans Herz, ihre Bibliothek als einen Ort der Gemeinde zu betrachten. Vor allem große Bibliotheken haben ein Problem damit, denn ihren Zweigstellen fehlt es oft an der Befugnis oder dem Personal an Zeit, um Öffentlichkeitsarbeit zu leisten. Auch Richtlinien wie rigide Öffnungszeiten und strenge Verhaltensregeln können den Eindruck erwecken, dass eine Bibliothek kein gastfreundlicher Ort ist. Uns ist aufgefallen, dass viele Bibliotheksangestellte nicht wissen, wie sie mit Nutzerinnen und Nutzern oder Freiwilligen umgehen sollen, die einen Verbesserungsvorschlag haben und sich einbringen wollen. Sicherlich müssen viele bürokratische Hürden umschifft werden. Doch zunächst könnte man sich ein wenig Zeit nehmen, um das vorherrschende Bildungsbedürfnis zu verstehen, ihm auf spannende, interaktive Weise zu begegnen und sich abseits der eingetretenen Pfade zu bewegen.
Wir ermutigen Bibliotheken dazu, kooperative Lernangebote zwar zu moderieren, aber nicht einzuschränken. Wenn eine Bibliothek beispielsweise 20 Menschen zusammenbringt, die ihre rhetorischen Fähigkeiten schulen wollen, darf man sie nicht einfach damit allein lassen. Viele fühlen sich überfordert und geben dann auf. Nötig ist jemand, der die Menschen beim Lernen anleitet. Doch wir wollen auch nicht, dass der Unterricht in Bibliotheken in so festen Bahnen verläuft, wie das normalerweise an Universitäten der Fall ist – mit teuren Lehrbüchern und Standardprüfungen.
Wir wollen mit den Bibliotheken Programme entwickeln, die so strukturiert sind, dass sie die Lernenden auf den richtigen Weg bringen. Gleichzeitig sollen sie so viel Freiheit lassen, dass sie ihre Lernerfahrung selbst steuern können und sich nicht dem Willen einer ganzen Klasse beugen müssen. Das ist nicht immer einfach. Aber Lernzirkel helfen, das Konzept der alleinigen Expertise aufzubrechen und anzuerkennen, dass wir alle gleichzeitig Lehrende und Lernende sind. Insgesamt ist es uns deutlich besser gelungen, dieses Konzept mit Bibliotheken als mit Universitäten zu entwickeln. Denn wie bereits erwähnt, steht diese Philosophie absolut im Einklang mit dem Auftrag von Bibliotheken.
Nico Koenig koordiniert das Lernzirkelprogramm und berät die mit P2PU vernetzten Pädagoginnen und Pädagogen sowie Bibliothekarinnen und Bibliothekaren. Er verfügt über eine zehnjährige Erfahrung im Bereich der Entwicklung, Koordination und Unterstützung von außerschulischen und gemeinschaftsbasierten Studienplänen und -projekten im Bereich der Erwachsenenbildung.
Grif Peterson | © Grif Peterson Grif Peterson, Peer 2 Peer University, Programmleitung
Grif Peterson ist für das didaktische Design und die Entwicklung von Lernzirkeln, einschließlich der Auswahl und Einführung von Onlinekursen, für die Konzeption und Entwicklung von Hilfsmitteln für Lehrende und Lernende sowie für die Ausbildung und Einarbeitung der Lehrenden verantwortlich. Er ist für die Kontaktpflege der P2PU zu öffentlichen Bibliotheken weltweit zuständig und etablierte eine dauerhafte Zusammenarbeit mit zahlreichen großen Bibliotheken wie der Chicago Public Library und dem Kenya National Library Service.