Mexiko-Stadt
Die Mauer und die Quelle
Wandmalereien als Anklageschrift: Für die Menschen, die infolge eines architektonischen Großprojekts im Süden von Mexiko-Stadt ihr Grundrecht auf eine funktionierende Wasserversorgung in Gefahr sehen, werden die Kunstwerke zum Ausdruck der freien Meinungsäußerung. Wie das Wasser, das unaufhaltsam und unsichtbar aus der Baustelle strömt, kann auch die Aneignung der sie umgebenden Absperrung unmöglich eingedämmt werden.
Die Quelle
Im Süden von Mexiko-Stadt, zwischen Tlalpan, Ciudad Universitaria und Santo Domingo, breitet sich etwa zehn Meter unter der Erde eine Schicht aus Vulkangestein aus, die einen ungefähren Radius von 80 km2 abdeckt. Es ist die Lava, die vor ca. 1700 Jahren aus dem Krater des Vulkans Xitle floss und zu Stein wurde. Wie ein riesiger Schwamm saugen sich die Poren dieser Gesteinsschicht mit all dem Wasser voll, das sich in den wenigen Grünflächen dieses Teils der Stadt ansammelt (im Wald von Tlalpan und dem Naturschutzgebiet Pedregal de San Ángel). Vor einigen Jahrzehnten wurden auf eben dieser Schicht aus Wasser und Stein die Dörfer Los Reyes, La Candelaria, Ajusco, Santo Domingo, Santa Úrsula und Ruiz Cortines erbaut, während um das Gebiet herum Schnittlinien gezogen wurden: Straßen und Verkehrsachsen verbinden nun die südlichen Gebiete mit dem Rest der Metropolis.Im März 2015 wurde an einer jener Straßen, die diese von Häusern bedeckte Gesteinsformation durchqueren, ein Bauprojekt in Angriff genommen. Bis zum heutigen Tag sticht der Bau auf dem Grundstück mit der Hausnummer Avenida Aztecas 215 aus dem urbanen Geflecht der umliegenden Dörfer heraus wie ein Fremdkörper: 3 Häusertürme, 377 Wohnungen, 683 Parkplätze. Für die Konstruktion wurden der Lehm und die oberen Erdschichten abgetragen, die das Grundwasser von der Oberfläche trennten. Danach stieß man auf härtere Gesteinsschichten, die entfernt werden sollten, um erst Kellerräume zu schaffen und dann das Fundament der Gebäude anzulegen. Als der Stahl der Baumaschinen das Vulkangestein durchbrach, quoll das Wasser aus ihm heraus wie aus einem aufgedunsenen Schwamm.
So bildete sich auf dem Baugrundstück und an einer der meistbefahrenen Straßen im Süden der Stadt eine neue Quelle.
Das Wasser sprudelte, und die Arbeiten nahmen ihren Lauf. Die Ausschachtung der Baugrube schritt voran, Pfeiler wurden errichtet und Betonmassen verfestigten sich. Das Wasser floss derweil unaufhaltsam weiter. Die Baugesellschaft, der der Fortschritt der Arbeiten wichtiger erschien als die widersprüchliche Realität der Bodenbeschaffenheit, leitete den Strom in den nächstgelegenen Abfluss: Ein Versuch, das Grundwasservorkommen im Gestein auszulöschen und das Austreten des flüssigen Nasses zu verheimlichen.
Die Versammlung
Anfang 2016 bemerkten einige Anwohner*innen eine ganze Reihe von Schläuchen, die von der Baustelle in Avenida Aztecas 215 zu den Abwasserkanälen am Straßenrand führten. Das Wasser floss ununterbrochen. Die Bauarbeiten fanden indessen hinter einer zwei Meter hohen Absperrung aus Spanplatten statt.Seit über einem Jahrzehnt werden die Forderungen der Bewohner*innen dieser ehemaligen Dörfer von den Behörden ignoriert, die für die Wasserversorgung in dieser Zone verantwortlich ist. Vielen Anwohner*innen bleibt oft nichts anderes übrig, als sich auf den Weg zu den Bürogebäuden des SACMEX (Wasserwerk von Mexiko-Stadt) zu machen, um dort nach stundenlangem Warten einen Tanklaster zu beantragen, mit dessen Ladung sie ihre alltäglichen Grundbedürfnisse abdecken können. Zur selben Zeit strömt mit jeder Sekunde so viel Wasser aus der Baustelle in Richtung Kanalisation, dass damit Hunderte von Lastern befüllt werden könnten.
Wasser im Überfluss – in einer Gegend, die ständig unter Wassermangel leidet.
Dieser Anblick zog immer mehr Menschen aus den umliegenden Vierteln zu der Holzmauer, die das Bauprojekt von der Straße trennte. Sie entfernten die Werbeplakate, mit denen die Spanplatten bekleistert waren, sodass diese schließlich unbedeckt dastanden. Vor der Absperrung versammelten sich erst 10, dann 20, 50 und später 80 Personen. Einige stellten sich am Bordstein entlang auf, um die Mauer abzuschirmen, andere bemalten sie der Länge nach blau. Das Holz war nun getränkt von der Farbe des unbewölkten Himmels, der sich im stillen Wasser widerspiegelt. Auf der einen Seite der Absperrung dröhnten die Pumpen, auf der anderen führten prall gefüllte Schläuche auf direktem Weg zum Gullydeckel.Innerhalb weniger Stunden, genauer gesagt, am 25. Februar 2016 zwischen 16:00 und 21:00 Uhr, wurde die Absperrung zur Protest-Schrift: „Wasser hält uns am Leben“, „Umweltbewusstsein erhält uns das Wasser“, „Hier wird frisches Quellwasser zu Abwasser“, „Die Erde gehört denen, die sie bebauen; das Vulkangestein gehört denen, die es bewohnen“. Der Bauzaun ermöglichte nun die Kommunikation zwischen den dort versammelten Menschen und den Vorbeikommenden, die die Mitteilungen auf der Mauer von der Avenida Aztecas aus lesen konnten. Eine Mauer, die sich in den darauffolgenden Monaten noch in viele andere Mauern verwandeln sollte.
Vor der umgestalteten Barriere schlossen sich die Bewohner*innen der umliegenden Dörfer zur „Asamblea General de los Pueblos, Barrios, Colonias y Pedregales de Coyoacán“ zusammen.
Die Mauer
Die Mauer ist Botschaft, Fenster, Altar, Klassenzimmer, Versammlungsort, Schlachtfeld.Seit Februar 2016 hat die Absperrung bereits viele verschiedene Formen angenommen. Im Laufe der Jahre hat sich ihr Aussehen, ihre Höhe und Länge sowie das Material geändert: Holz, Metall, Metall mit Stacheldraht, Zement, Stahl. Dem weichen Holz folgten Eisen und später Beton. Damit verfestigte sich die Mauer in demselben Maße wie die Spannungen zwischen denjenigen, die davon ausgehen, das Wasser flösse direkt aus einem riesigen Wasservorkommen ab, und jenen anderen, die in ihm bloß Abwasser sehen, das schleunigst beseitigt werden muss, um damit Platz für die Weiterentwicklung der Stadt zu schaffen.
Nachdem zwischen April und Dezember die Wand zum ersten Mal bemalt worden war, organisierte die Asamblea eine Mahnwache neben der Baustelle an der Avenida Aztecas, durch die ihre Proteste sichtbarer und die Absperrung in vielerlei Hinsicht aktiviert wurde. So schnitten Anwohner*innen beispielsweise ein Loch hinein, durch das ein See sichtbar wurde, der alle möglichen Lebensformen anzog. Ein anderes Mal projizierten sie Bilder auf die Mauer, verwendeten die Spanplatten als Tafeln für Workshops oder überließen sie den Slogans anderer Protestbewegungen, schlugen Zelte auf, errichteten Altäre oder erweiterten die Absperrung mithilfe von ineinander übergehenden Farben, Objekten und Aktionen bis über den Bordstein hinaus.
Am 5. Dezember 2016 wurde die Blockade aufgelöst. Die Absperrung veränderte daraufhin mehrmals ihr Aussehen. Sie wurde von der Baugesellschaft durch eine neue ersetzt, die daraufhin von etwa 800 Personen niedergerissen und im Anschluss von Stahlplatten abgelöst wurde. Später wurde an ihrer Stelle eine gemauerte Häuserwand errichtet. Die Mauer wurde also mehrfach neu errichtet und abgerissen, wechselte aber dank der unablässigen Proteste der Asamblea im Laufe der Monate immer wieder die Farbe. Hartnäckig erschienen Botschaften und Bilder, Plakate und Symbole. Wie das Wasser, das unsichtbar aus der Baustelle strömte, konnte auch die Aneignung der sie umgebenden Absperrung unmöglich eingedämmt werden.
Als Antwort auf die Unnachgiebigkeit der Baugesellschaft sowie der Regierung versuchte die Asamblea, diese vertikale und sich stets weiter verhärtende Front aufzuweichen.