Rosinenpicker | Literatur  Schlaflos durch die Nacht

Nachttischschublade mit Buch (Enzensberger: Schlafen) © Hanser Berlin / Canva

Theresia Enzensberger liegt unfreiwillig nächtelang wach. Also denkt sie über das einzigartige körperliche Phänomen namens Schlaf nach, das uns verletzlich und schwach sein lässt – und ohne das wir zu keiner Leistung fähig sind.

Susan Sontag, Sylvia Plath, Fjodor Dostojewski: Große Geister, die allesamt nicht gut oder gar nicht schlafen konnten. Wer darf in dieser Aufzählung nicht fehlen? Natürlich Franz Kafka. Er schrieb:

Schlaflose Nacht. Schon die dritte in einer Reihe … Ich bin vollständig wach, habe das Gefühl, gar nicht oder nur unter einer dünnen Haut geschlafen zu haben, habe die Arbeit des Einschlafens von neuem vor mir und fühle mich vom Schlaf zurückgewiesen.

Die ruhelose Gesellschaft

Ein Leiden, das den Literatur-Superstar, dessen Todestag sich 2024 zum hundertsten Mal jährt, mit einer wachsenden Anzahl von Menschen in Deutschland eint. So diagnostizierte die Krankenkasse DAK in ihrem Gesundheitsreport 2017, dass Schlafstörungen bei Berufstätigen im Alter zwischen 35 und 65 Jahren von 2010 an um 66 Prozent gestiegen sind. Es ist davon auszugehen, dass diese Zahlen bis heute nicht geringer wurden. Eine nicht-repräsentative Stichprobe ist leicht durchzuführen: Fragt man in geselliger Runde, wie denn die Umstehenden so geschlafen haben, dann werden die Geschichten über Ein- und Durchschlafschwierigkeiten kaum ein Ende nehmen.

Angesichts dieser Gesellschaftsdiagnose und dazu ihrer eigenen Schlafprobleme beschloss Theresia Enzensberger, dem Schlaf – und seiner Abwesenheit – mit einem schmalen und gleichwohl abwechslungsreichen Buch namens Schlafen näherzukommen.

Herausgekommen ist kein Ratgeber. Zwar gibt es auf S. 65f. einige gesammelte Erfahrungen in Tipp-Form – „Keinen Alkohol zu trinken, schadet nicht“ „Kamille und Bachblüten bringen überhaupt nichts“ – doch sie machen eben nur einen Bruchteil der 110 Seiten aus. Stattdessen enthält das Werk essayistische Passagen, persönliche Beobachtungen sowie eine alptraumhafte Erzählung. Die vier Kapitel sind mit den Bezeichnungen der Schlafphasen – Einschlafen, Leichter Schlaf, Tiefschlaf, Traumschlaf – überschrieben und auf instruktive Weise in Beziehung gesetzt. Weil etwa in der Phase des leichten Schlafs „das Gehirn stark beansprucht und das Gedächtnis konsolidiert wird“, unternimmt Theresia Enzensberger hier einen Ausflug in die Theorie und in die Politik.

Verwertungslogik

So reflektiert sie darüber, dass der Schlaf im Kapitalismus einem Paradox unterliegt. Denn solange wir schlafen, können wir weder arbeiten noch konsumieren. Andererseits: Nur wer morgens ausgeschlafen aus dem Bett springt, um in den Arbeitstag zu starten, ist in erwünschtem Maße produktiv. Im müden Zustand dreht sich das Getriebe nur unzureichend weiter.

Doch ganz ohne Kontrolle geht es nicht. Wenn die Menschen schon um ihrer Gesundheit willen in schöner Regelmäßigkeit in diesen von der Welt abgeschotteten Zustand verfallen müssen, so muss diese Phase des Nichtstuns wenigstens eingegrenzt und optimiert werden. Deshalb verletzten bereits Lang- und Mittagsschläferinnen die Norm und werden entsprechend als faul und willensschwach an den gesellschaftlichen Pranger gestellt. Und für all die Empfindlichen und Schlafgestörten gibt es käuflich zu erwerbende Hilfsmittel: Ohrstöpsel, Baldriankapseln, Melatonin, spezielles Bettzeug und vieles mehr. „Die Pathologisierung der Normabweichung“, so Enzensberger, „ist also durchaus rentabel.“

Angst vor Kontrollverlust

Neben diesen ökonomisch geprägten Ausführungen bietet die Autorin Gedanken über den Zusammenhang zwischen Schlaf und der Angst vor Kontrollverlust. Denn die Schlafstunden sind solche ohne Kontrolle über Körper und Geist – Stichwort Schlafwandeln, Stichwort Traumwelt – und das ängstigt viele Menschen. Leben wir doch in der Annahme, wir herrschten über körperliche Bedürfnisse, Bewusstseinszustände und die Zeit. Der Schlaf jedoch postuliert nur durch sein Dasein das Gegenteil. Vielleicht, so sinniert Theresia Enzensberger am Ende ihrer Ausführungen, liegt auch ihre Schlaflosigkeit mit darin begründet, dass sie nicht in die unkontrollierbaren Zwischenreiche abgleiten will. Mittels Schlafzuckungen, so erkennt sie „zieht mein Körper die Reißleine. Es ist ein letztes Mittel, um die Kontrolle zu behalten, um nicht in die Handlungsunfähigkeit des Traumreichs zu sinken, rutschen, stürzen.“

Wie erschütternd und beängstigend sich albtraumhafte Zustände auswachsen können, spielt Theresia Enzensberger in ihrer Erzählung Stallgeruch durch. Diese rundet in aller Eindringlichkeit die anregenden und vielfach faktenbasierten Überlegungen über ein Phänomen ab, für dessen Gelingen sonst gerne die Einzelperson allein verantwortlich gemacht wird: „Kein Kaffee nach 14 Uhr!“ Die kritische Betrachtung der Schlafnormen, der Versuch eines Perspektivenwechsels rund um das Thema Schlaflosigkeit setzen schon beim Lesen ein produktives Nachdenken in Gang – das im Idealfall in einen erholsamen Schlaf mündet.
 
Theresia Enzensberger: Schlafen
München: Hanser Berlin, 2024. 110 S.
ISBN: 978-3-446-27962-9
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