Rosinenpicker | Literatur  Die Ossifikation des Ostens

Ein Storchennest auf einem Trabi, Neuruppin, Brandenburg, 2004 © picture alliance / Caro | Bastian

Nach der deutschen Wiedervereinigung glaubten viele, dass sich die ostdeutsche Gesellschaft sehr bald der westdeutschen angleichen würde. Für Steffen Mau ist klar: Das war eine Illusion – Ostdeutschland wird anders bleiben.

Ungleich vereint heißt das neue Buch von Steffen Mau. Darin konstatiert der Soziologe von der Berliner Humboldt-Universität zunächst, dass sich der Diskurs über Ostdeutschland im Kreis drehe. Die Befunde seien kompliziert und widersprüchlich. Einerseits werde den Ostdeutschen vorgeworfen, sie seien ein notorisch unzufriedenes Volk, das sich in der Opferrolle gefalle und zudem Demokratiedefizite aufweise, die von der doppelten (nicht ausreichend aufgearbeiteten) Diktaturerfahrung durch Nationalsozialismus und Sozialismus herrührten. Andererseits fordere man auch, die Geschichte der DDR und die ostdeutschen Lebensgeschichten nicht auf die Diktaturerfahrungen zu reduzieren.

Im letzten Jahr hat ein Buch des Literaturwissenschaftlers Dirk Oschmann für Diskussionen gesorgt. Dieser behauptet, der Osten sei lediglich eine westdeutsche Erfindung. Sie diene dazu, die Hegemonie des Westens zu zementieren und den Osten kleinzuhalten. Eine These, der Mau in seinem Buch mehrfach widerspricht. Er betont die Eigenständigkeit der ostdeutschen politisch-gesellschaftlichen Kultur, die aus westlicher Perspektive bisweilen nur als politisch nicht korrekte Eigenwilligkeit wahrgenommen werde.

Nach Ansicht von Steffen Mau hat der Journalist Cornelius Pollmer den typischen Ostdeutschland-Diskurs anlässlich seiner Kritik an Oschmanns Buch so humorig wie treffend als „Los Wochos in Lostdeutschland“ auf den Punkt gebracht. Der Ablauf folge immer dem gleichen  Schema: „Jemand äußert etwas über den Osten, dann gibt es eine ›Debatte‹, am Ende sind alle Diskurfexe müde und kommen sich noch spanischer vor als sonst.“ Anschließend passiere „eine Weile zu einhundert Prozent nichts. Dann geht es wieder von vorne los.“

Mau: Ungleich vereint (Buchcover) © Suhrkamp

 

Willkommen in der Posttransformationsgesellschaft

Zu lange hat man nach der Wiedervereinigung geglaubt, es werde im Laufe der Jahre quasi automatisch zu einer Angleichung der Lebensverhältnisse und vor allem auch der Mentalitäten und Identitäten von Ost und West kommen. Man müsse nur genug Geld (und West-Eliten) in den Osten pumpen, dann würden in den versprochenen „blühenden Landschaften“ und den aufgehübschten historischen Innenstädten glückliche und dankbare Menschen nachwachsen. Neben den unterschiedlichen sozialen Lebenswelten sowie den nicht so einfach zu nivellierenden Identitäten war laut Mau ein weiteres Hauptproblem, dass der „Aufbau Ost“ immer nur als „Nachbau West“ denkbar war.

Bis heute ist es das politische Ziel, „die innere Einheit sozial und wirtschaftlich zu vollenden“, so steht es etwa im aktuellen Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und FDP. Für Mau steht jedoch fest: Die Transformationsphase im Osten ist passé, willkommen in der Posttransformationsgesellschaft! Daher müsse man sich von diesem politischen Wunschdenken verabschieden, die Realität sei längst eine andere. Bei der Angleichungsthese findet Mau weitere Widersprüche. Dass sich der Osten an den Westen angleichen solle, wenn es um die ökonomischen Lebensverhältnisse gehe, sei natürlich wünschenswert. Immer noch sind die reichsten in Ostdeutschland lebenden Menschen Westdeutsche, und von der gesamtdeutschen Erbschaftssteuer werden gerade mal zwei Prozent in Ostdeutschland gezahlt. Aber soll sich der Osten auch an den Westen anpassen, wenn es um die Mieten, die Beschäftigungsquote von Frauen, den Gender-Pay-Gap, die Kita-Abdeckung oder die Theaterdichte gehe? In all diesen Bereichen stehe der Osten besser da als der Westen.

Verknöcherung und Regeneration

Für seine These, dass der Osten dauerhaft anders bleiben wird, findet Mau eine schöne Metapher aus der Welt der Medizin: die Ossifikation. Dieses Phänomen sei „einigermaßen deutungsoffen, denn es bezeichnet sowohl (die unter Umständen pathologische) Verknöcherung wie auch die Regeneration nach einem Bruch“.

Die bedenklichen Entwicklungen im Osten spielt Mau keinesfalls herunter, seien es die demografischen Probleme (schrumpfende und überalterte Bevölkerung), das fehlende Vertrauen in Institutionen, die verhältnismäßig wenigen Parteimitgliedschaften oder die damit einhergehenden Wahlerfolge der AfD. Doch Mau analysiert klug und sachlich, ohne Hang zu Panikmache oder Hysterie. Ostdeutschland sei politisch sicher ein schwieriges Pflaster, aber die deutsche Einheit werde nicht in Frage gestellt.

Im letzten Kapitel entwirft er sogar eine kleine Utopie: der Osten als „Labor der Partizipation“. Mau macht einen klassisch aufklärerischen Vorschlag. Er plädiert für die Einführung von Bürgerräten, um die Idee einer aktiven Partizipation zu fördern und Populismus zu entzaubern. Er weiß um die Kritik an solchen Instrumenten der direkten Demokratie, doch allein durch „bessere“ Kommunikation seitens der Parteizentralen werde sich die Demokratie nicht stärken lassen. Gerade die schwache Parteienbindung in Ostdeutschland, die vom historisch bedingten Fremdeln mit der (westdeutschen) Parteiendemokratie herrühre, mache alternative Formen der Bürgerbeteiligung zwingend erforderlich. Sonst droht eine durchaus als pathologisch zu bezeichnende Ossifikation zweier aktuell wirkmächtiger Alternativen in Ostdeutschland: der Erfolg der AfD und der verhältnismäßig große Anteil an Nicht-Wähler*innen.
 
Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt
Berlin: Suhrkamp, 2024. 168 S.
ISBN: 978-3-518-02989-3
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