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Sasa Stanisic liest aus „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ bei der lit.Cologne 2024, 11.06.2024 © picture alliance / Geisler-Fotopress | Kai Schulz/Geisler-Fotopress

Ein sommerheißer Tag. Vier Jugendliche sitzen etwas gelangweilt in den Weinbergen. Plötzlich hat einer eine lebensverändernde Idee. Saša Stanišić entwickelte daraus einen ganzen Erzählband.

Wer Saša Stanišić‘ neues Buch in die Hand nimmt, bestaunt als erstes den Titel, alleine wegen seiner Länge: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne. Dieser Titel setzt den Ton: etwas skurril, etwas abseitig, etwas ironisch. Neugierig geworden, möchte man unbedingt wissen, was es mit diesem Friedhofsdating auf sich hat. Wie passt das Cover voller Postkartenmotive von Helgoland dazu? Im Verlauf des Erzählbands offenbart sich die mehr als doppelbödige Rolle dieses Ortes.

Die Lebensgeschichte von Stanišić ist geprägt von Unwahrscheinlichkeiten. 1978 in Višegrad geboren, flüchten seine Eltern 1992 nach Ausbruch des Bosnienkriegs mit ihrem vierzehnjährigen Sohn nach Deutschland. 1998 ziehen die Eltern weiter in die USA. Der Sohn bleibt und entwickelt sich zu einem der Lieblingsschriftsteller der Deutschen. Sein erster Roman Wie der Soldat das Grammofon repariert landet 2006 gleich auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises. Mit seinem zweiten Roman Vor dem Fest gewinnt er 2014 den Preis der Leipziger Buchmesse, 2019 wird sein vierter Roman Herkunft mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet. Sein erstes Kinderbuch Hey, hey, hey, Taxi! ist 2022 für den Deutschen Jugendliteraturpreis nominiert. Für einen Mittvierziger ist die Liste seiner Auszeichnungen beeindruckend lang.

Sie wird noch länger: 2024 erhält Stanišić den Wilhelm Raabe-Literaturpreis, sein neuer Erzählband birgt laut Jury „nichts weniger als die frühromantische Utopie: Das Dasein lässt sich durch Literatur in etwas anderes, besseres verwandeln“.

Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden ... (Buchcover) © Penguin

Gewitzte Geschichten

Es sind gewitzte Geschichten – vielleicht ein passendes Wort angesichts der Späße, die sich der Autor mit uns Lesenden erlaubt. Es sind viele Geschichten im Konjunktiv. Würde man sich in das Leben, das einem gleich in der ersten Erzählung Neue Heimat so verführerisch im so genannten Proberaum, also der Fantasie angeboten wird, einloggen? Darin hängen vier Jungs – alle so um die 16 – vor den Sommerferien 1994 in den Weinbergen bei Heidelberg ab, werfen Steine in die Luft, die die anderen zu treffen versuchen. Sie heißen Fatih, Piero, Nico und Saša und sind „Ausländer in Deutschland“, auch Nico, dessen coole, von allen bewunderte Mutter aus der DDR stammt. Die Jugendlichen haben alle Zeit der Welt und keine rosigen Aussichten: „Auf solche wie uns warten doch statistisch eher beschissene Leben als unbeschissene, oder?“ Doch wer viel Zeit hat, wird bisweilen kreativ: Fatih hat eine bestechende Idee – einen Proberaum für das Leben: „Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal.“

Gedankenspiele mit dem Schicksal sind das Leitmotiv in den folgenden, spielerischen Geschichten. Saša, dessen Eltern sich keinen Urlaub leisten können, will vor seinen Kumpels nicht als „Loser“ dastehen. Er gibt mit einer angeblichen Reise nach Helgoland an. Fast 30 Jahre später wird er auf dieser Insel nicht nur verdächtigt, 1994 als Jugendlicher ein Wirtshausschild geklaut zu haben. Sondern er ist auch Heinrich Heine begegnet.

Stanišić mischt sich mehrmals auf einer Meta-Ebene ins Geschehen ein. Gegen Ende gibt es eine kurze Episode, in der Saša Stanišić etwas anderes geworden ist als Schriftsteller. Der Proberaum bietet auch ihm ein reizvolles Leben an, in das er sich eingeloggt hätte.

Eine alte Form der Virtual Reality

Sein Erzählband erinnert daran, dass Literatur schließlich eine ganz alte Form der Virtual Reality ist. So ist Dilek in einer Geschichte in Heidelberg zu Hause, um in einer anderen, einer Traumnovelle, als Putzfrau in Wien zu erleben, wie die Zeit still steht und sie sich emanzipiert sowohl von ihrem Mann, der – gegen den Willen seiner Frau und seines Sohnes – in die Türkei zurückkehren möchte, als auch von ihrer erstarrten Arbeitgeberin, „ein Mensch mit vielen Antworten und wenigen Fragen“, bei der sie sich den Spaß erlaubt, ihr einen „schwungvollen Schnurrbart“ ins Gesicht zu malen.

Es folgen drei Geschichten über einen Juristen namens Georg Horváth, der während seiner Elternzeit beginnt, Pokémon Go zu spielen. Außerdem verzweifelt er an der Mülltrennung und am Memory-Spiel gegen seinen achtjährigen Sohn. Als Horváth schließlich spontan seinen Job kündigt, taucht plötzlich Miroslav Klose, der Rekordtorschütze der deutschen Nationalmannschaft, auf – und Pommes-verrückte Möwen landen in einer Straßenbahn.

Das Haar hat etwas zu Hause vergessen

Mit Spott und kleinen Spitzen spart Stanišić nicht. Es tritt etwa ein gewisser Siggi auf, der Schornsteinfeger und Reichsbürger ist. Er hat eine Frisur, die aussieht, „als hätte das Haar etwas zu Hause vergessen und käme beim besten Willen nicht drauf, was es war“. Im Fernsehen läuft nebenbei eine Dokumentation über Datschenbesitzer in Mecklenburg-Vorpommern: „Auf den ersten Blick Menschen wie du und ich, auf Nachfrage hin ausländerfeindlich“.

Wunsch oder Wirklichkeit, Traum oder Realität, Spaß oder Ernst – alles Gegensätze des Lebens, um die sich Literatur wie die von Saša Stanišić nicht scheren muss. Geht es darin doch um eine Vielfalt an Möglichkeiten, die im Leben nicht alle realisierbar sind, in der Literatur gleichwohl schon – ganz im Sinne Robert Musils, in dessen Roman Der Mann ohne Eigenschaften es heißt: „Wenn es Wirklichkeitssinn gibt, muss es auch Möglichkeitssinn geben.“ Diesen Möglichkeitssinn definiert Musil „als die Fähigkeit …, alles, was ebenso gut sein könnte, zu denken und das, was ist, nicht wichtiger zu nehmen als das, was nicht ist“. Über diese Fähigkeit verfügt Stanišić ganz ohne Zweifel!
 
Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne
München: Penguin, 2024. 256 S.
ISBN: 978-3-630-87768-6