Rosinenpicker | Literatur  Namenlos und unsichtbar

Mitarbeiter zerlegen im Schlachtbetrieb Danish Crown in Teterow Rinderhälften
Mitarbeiter zerlegen im Schlachtbetrieb Danish Crown in Teterow Rinderhälften © picture alliance/dpa | Jens Büttner

Auch in einem reichen Land wie Deutschland existieren Armut, Ungerechtigkeit und Ausbeutung. Diese Auswahl an Sachbüchern für Erwachsene und Kinder gibt persönliche Einblicke, erklärt Hintergründe, sensibilisiert und klagt an.

„Ich persönlich habe nichts gegen Reiche, ich hasse sie nur“ – dieses durchaus reißerische Zitat steht auf dem Buchrücken von Olivier Davids Von der namenlosen Menge, in dem der 1988 in Hamburg geborene Autor und Journalist „über Klasse, Wut & Einsamkeit“ schreibt. Es handelt sich um eine Anklageschrift gegen den Preis, den die untere Klasse in vielerlei Hinsicht zahlt, um das Leben der oberen Klassen zu ermöglichen. David selbst ist in Hamburg-Altona aufgewachsen. Er arbeitete im Supermarkt, als Malerhelfer, Kellner, Lagerarbeiter, Schauspieler. Mit 30 schafft er den Quereinstieg in den Journalismus. Sein Buch soll jedoch keine Aufstiegsgeschichte sein, denn diese Art von Geschichten trage oft zu der Erzählung bei, es liege am Einzelnen, ob er oder sie einen Ausweg aus einem erniedrigenden Dasein schaffe.

Kapitalismus unter Anklage

David stellt unsere gesellschaftliche Strukturen in Frage. So sei die Vereinzelung ein Mechanismus, der insbesondere Menschen aus der unteren Klasse in die „innere Migration“ treibe. Hinzu komme, dass es zwar ein Zugehörigkeitsgefühl zur sozialen Klasse gebe, aber daraus keine Solidarität entstehe. Die Menschen aus der unteren Klasse kennen ihren „Platz in der Welt“. David bezieht sich auf verschiedene Soziologen. Pierre Bourdieu gehört dazu, dessen Buch Die feinen Unterschiede er zitiert. Die soziale Lage ist danach „bestimmt durch die Gesamtheit dessen, was sie nicht ist, insbesondere durch das ihr Gegensätzliche: soziale Identität gewinnt Kontur und bestätigt sich durch Differenz“. Im Roman des Schriftstellers Didier Eribon Rückkehr nach Reims liest David, dass arme Menschen durchaus von der Möglichkeit eines anderen Lebens wissen, „aber dieses Anderswo liegt in einem so unerreichbaren, separaten Universum, dass man sich weder ausgeschlossen noch benachteiligt fühlt, wenn einem der Zugang zu den Selbstverständlichkeiten der anderen verwehrt bleibt. So ist die Welt geordnet, Punkt.“

Anschaulich, auf der Basis eigener Lebenserfahrungen, und bewegend klagt David die gesellschaftlichen Verhältnisse in unserem kapitalistischen System an. Er schreibt über Zustände und Gefühle, die weh tun, die teilweise individualisiert und dadurch delegitimiert werden: Einsamkeit, Krankheit, Angst, Wut und Hass. Ein Kapitel gibt einen bewegenden Brief an seinen ihm kaum bekannten französischen Vater wieder. David fürchtet zum „Kolonisatoren“ des Vaters zu werden, wenn er über dessen Leben schreibt und ihm damit die Deutungsmacht nimmt. Wer sich für thematisch verwandte Texte von David interessiert, lese seine Kolumne David gegen Goliath im Online-Magazin Das Lamm, dort erschien auch ein Auszug aus seinem aktuellen Buch.

Deutschland, ein Billiglohnland

Einen systematischen Blick auf Ungerechtigkeit und Ausbeutung wirft der Journalist Sascha Lübbe in seinem Buch Ganz unten im System. Der Titel lehnt sich an einen Klassiker des deutschen Investigativjournalismus an, Ganz unten (1985) von Günter Wallraff. Damals nahm Wallraff die Identität eines türkischen Arbeiters namens „Ali“ an, arbeitete in verschiedenen Fabriken und schildert in seinem Buch die selbst erlebte menschenverachtende Behandlung der damals so genannten Gastarbeiter. Lübbe ist für sein Buch in keine Rolle geschlüpft. Er hat aber über ein Jahr lang einzelne migrantische Arbeitskräfte besucht und interviewt. Diese kamen vor allem aus drei Branchen: Bauwirtschaft, Fleischindustrie und Transportwesen.

Auch wenn sich die Gesellschaft in den etwa 40 Jahre seit dem Erscheinen von Wallraffs Buch geändert hat, existiert in Deutschland weiterhin eine ausbeuterische parallele Arbeitswelt, in der die „Alis“ von heute gefangen sind. Viele der migrantischen Arbeitskräfte kommen allerdings nicht mehr aus den „alten“ Gastarbeiter-Ländern, sondern aus Rumänien, Polen und Bulgarien, aber auch aus der Ukraine oder Usbekistan, aus Syrien, Irak oder Afghanistan.

Gefangen im System

Lübbe gelingt mit seinem faktenbasierten wie aufrüttelnden Buch zweierlei: Er schildert anschaulich die prekären Arbeits- und Lebenssituationen anhand von Einzelfällen und stellt das dafür verantwortliche System verständlich dar. In den Kapiteln, in denen er im Niedriglohnsektor malochende Menschen porträtiert, kommen diese selbst zu Wort. Sie leben zusammengepfercht und teils zu überhöhten Mieten in heruntergekommenen Wohnungen. Urlaub wird ihnen verwehrt, ihren Lohn bekommen sie teilweise „schwarz” oder gar nicht. Selbst der Toilettengang wird reglementiert. Krank dürfen sie schon gar nicht sein, weil sie sonst nicht nur den Job, sondern oft auch die Wohnung oder in manchen Fällen das Aufenthaltsrecht verlieren.

Neben den sehr lebendig geschriebenen Reportagen schildert Lübbe das dahinterliegende System der Subunternehmer. In diesem sind auch die Auftraggeber, die so genannten Generalunternehmen, gefangen. Diese wüssten ohne die Subunternehmer gar nicht, wie sie genügend Arbeitskräfte akquirieren sollten. Außerdem wird das Kosten- und somit Lohndumping auch dadurch gefördert, dass etwa bei Ausschreibungen der öffentlichen Hand der Anbieter mit dem billigsten Angebot den Zuschlag bekommt. In manchen Branchen, wie etwa der Fleischindustrie, ist Deutschland im Vergleich zu den Nachbarn Dänemark und den Niederlanden sogar ein Billiglohnland.

Der hässliche Rand unseres Wohlstands

Lübbe malt kein Schwarz-Weiß-Bild, er weist durchaus auf Fortschritte hin, wie etwa das (geplante) Tariftreuegesetz oder das für die Fleischindustrie geltende, 2021 in Kraft getretene Arbeitsschutzkontrollgesetz. Das Problematische an diesen Gesetzen ist jedoch ihre Umsetzung, es mangelt vor allem an Kontrollen.

Auch die Kontrollstrukturen sind problematisch, da es je nach Aspekt verschieden Kontrollinstanzen gibt. So sind Arbeitszeit, Arbeitssicherheit und Unterbringung meistens Sache der jeweiligen Gewerbeaufsicht und der Berufsgenossenschaft. Für illegale Beschäftigung und die Einhaltung des Mindestlohns ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit des Zolls zuständig. Seit 2019 gilt dies auch für das Thema Menschenhandel – gemeinsam mit dem Bundeskriminalamt und der Polizei der Länder.

Lübbe spricht von den ca. 1,1 Millionen migrantischen Arbeitskräften als den „Unsichtbaren“, die in Deutschland etwa ein Drittel des Niedriglohnsektors ausmachen. Im Alltag trifft der Rest der Gesellschaft diese Menschen kaum, abgesehen von kurzen Kontakten z.B. an der Wohnungstür mit den Mitarbeitenden von Lieferdiensten oder im Büro, wenn abends die Reinigungskolonne kommt. Diese Menschen haben zudem weder die finanziellen noch die zeitlichen Ressourcen zur – wie es im Soziologendeutsch heißt – gesellschaftlichen Teilhabe. Sie sind, so der Soziologe Gerhard Bosch, der „hässliche Rand“ unseres Wohlstands.

Ungerechtigkeiten erkennen – früh übt sich!

Armut und (soziale) Ungerechtigkeit sind auch Thema in aktuellen Kindersachbüchern. Inka Friese und die Illustratorin Sarah Tabea Hinrichs erklären Kindern ab 7 Jahren in Das ist doch unfair!, warum es Armut und Reichtum gibt. Darin erzählen Kinder, was Armut für sie konkret bedeutet, nämlich keine Geburtstagsfeiern und Urlaube und immer mal wieder abgestellter Strom. Auf den gerade einmal 40 Seiten werden auch größere Zusammenhänge hergestellt. Schnell ist klar, dass Vieles am Geld hängt. Also wird erklärt, warum manche Menschen viel, andere wenig Geld haben – und wieso es Geld überhaupt gibt, warum auch der Staat Geld braucht und ob alle die gleichen Chancen haben, arm oder reich zu werden – nicht nur in Deutschland, sondern auch in anderen Ländern.

Neben den materiellen Grundlagen von Armut und Reichtum geht es um Vorurteile oder die Definition von Glück. Die Stiftung Lesen lobt Das ist doch unfair! als ein „anschauliches Sachbuch, das mithilfe vieler Bilder verständlich soziale Ungleichheit für Grundschüler erklärt... Ein rundum schön gestaltetes und informatives Buch, das diesen ernsten Themen nachvollziehbar und kindgerecht nachgeht.“

Man muss für Gerechtigkeit kämpfen

In Voll ungerecht! fragen Assata Frauhammer und die Illustratorin Meike Töpperwien nach dem Thema Gerechtigkeit. Denn was gerecht ist, so stellen sie eingangs fest, ist gar nicht so leicht zu entscheiden, weil jeder Mensch eine andere Perspektive und ein anderes Gerechtigkeitsempfinden hat. Zudem kann Ungleichbehandlung in manchen Fällen gerecht sein. Indem verwandte Themen und Begriffe wie Fairness, Gewissen oder Ethik aufgegriffen werden, geht es inhaltlich mehr und mehr in die Tiefe. Zahlreiche inhaltliche Facetten wie die Erörterung von Verteilungsgerechtigkeit, Chancengleichheit oder fairem Handel vervollständigen das Buch.

Es wird klar, dass sich nicht ein für alle Mal definieren lässt, was gerecht ist. Denn woran sollte man festmachen, was jemandem zusteht? An der Leistung? An der Bedürftigkeit? Oder etwa an dem Zufall der Geburt? Und wer entscheidet eigentlich, was gerecht ist? In der praktischen Umsetzung von Gerechtigkeit sind Vereinbarungen, Regeln und Gesetze hilfreich. Gerade bei der Verletzung von Gesetzen geht es anschließend um die Bestrafung – auch um die Frage, ob es die Todesstrafe geben sollte. Die Stiftung Lesen empfiehlt auch dieses Werk: „Ein wichtiges Buch, um Kinder früh für ein positiv gelebtes Miteinander und die Fragen unserer Zeit zu sensibilisieren“. Beide Kindersachbücher enden mit einem ähnlichen Aufruf: Für gleiche Chancen und eine gerechtere Welt muss man kämpfen.

Buchcover der besprochenen Bücher © Haymon, Hirzel, Fischer Sauerländer, Beltz & Gelberg

 
Olivier David: Von der namenlosen Menge. Über Klasse, Wut & Einsamkeit
Innsbruck: Haymon, 2024. 176 S.
ISBN 978-3-7099-8231-0
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe

Assata Frauhammer / Meike Töpperwien (Ill.): Voll ungerecht! Über Fairness und Gerechtigkeit
Weinheim: Beltz & Gelberg, 2024. 74 S.
ISBN: 978-3-407-75912-2 (ab 8 Jahren)

Inka Friese / Sarah Tabea Hinrichs (Ill.): Das ist doch unfair! Warum gibt es Armut und Reichtum?
Frankfurt: Fischer Sauerländer, 2024. 40 S.
ISBN: 978-3-7373-7276-3 (ab 7 Jahren)

Sascha Lübbe: Ganz unten im System. Wie uns Arbeitsmigrant*innen den Wohlstand sichern
Stuttgart: S. Hirzel, 2024. 208 S.
ISBN: 978-3-7776-3408-1
Diesen Titel finden Sie auch in unserer Onleihe