Clemens Meyers „Die Projektoren“  Bodenbearbeitung mittels Sprengstoffen

Clemens Meyers „Die Projektoren“
Blick auf die Zrmanja-Schlucht, Rio Pecos in Kroatien, wo viele der klassischen Winnetou-Filme gedreht wurden. © Shutterstock

Clemens Meyers genresprengender historischer Roman „Die Projektoren“ ist eine Herausforderung und eine Provokation, aber er ist auch ein reiches Geschenk an seine Leserschaft und die deutsche Literatur.

Das Knallen der Typen, die aufs Papier schlagen, dort Buchstaben hinterlassen, aus denen dann Wörter und Sätze werden, Geschichten, Westernabenteuer…
Der 1977 in Halle (Saale) geborene Autor Clemens Meyer, inzwischen in Leipzig ansässig, dürfte jeder an deutscher Literatur interessierten Person ein Begriff sein. Seine Auszeichnungen lassen sich nicht mehr an zwei Händen abzählen, darunter der Preis der Leipziger Buchmesse, der MDR-Literaturpreis und der Bayerische Buchpreis. Dennoch ist Die Projektoren, sein großspuriges, im Sommer 2024 erschienenes Werk, erst sein dritter Roman. Nebenbei ist er als Drehbuchautor, Autor von Theatertexten, Journalist und sogar als Übersetzer aus dem Englischen erfolgreich.

Sieben Jahre hat Clemens Meyer an Die Projektoren gearbeitet, und er hat die Zeit gut genutzt: Es ist ein überkochender, in alle Richtungen reichender und makellos recherchierter Ritt durch die gewaltvolle Geschichte der Volksrepublik Jugoslawien des 20. Jahrhunderts, durch die (im wahrsten Sinne) wahnsinnige Welt des (ebenfalls) sächsischen Hochstaplers und weltbekannten Autors Karl May sowie in die Seele der DDR. Mit Liebe zum historischen Detail, sprachlicher Klarheit und komplex arrangierten Abschnitten ist ihm ein Klassiker gelungen, der die Aufregung um die Abfuhr der Jury bei der Vergabe des Deutschen Buchpreises 2024 überleben wird.
Wir müssen weiter, Genosse Überlebender

Die verzahnte Geschichte, die sich über viele Jahrzehnte des 20. bis in das frühe 21. Jahrhundert erstreckt, all die kleinen und großen Geschichten aus den Weltkriegen, den zahlreichen Konflikten in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens, der Realität des Lebens in den ehemaligen Gebieten der Sowjetunion und den beiden deutschen Staaten bis in eine nicht genau bestimmte Gegenwart der heutigen Bundesrepublik, wird getragen von einer großen Zahl an Personen, aber nur von einer Handvoll – fast ausschließlich männlicher – Protagonisten. Vor allem von der zentralen Figur, „der Fremde, der wie ein Cowboy aussah“, ein verbannter Partisan der kroatischen Unabhängigkeitsbewegung, der Jahre später zum Komparsen in diversen Karl May-Verfilmungen der 1960er-Jahre wird, wieder viele Jahre später zu einer Art Chronisten und Inhaber einer Zeiss TK-35 Projektoren-Doppelanlage, mit der er ebendiese Karl May-Verfilmungen wie Dokumente einer verlorenen Zeit unter die Leute bringt.

Clemens Mayer "Die Projektoren" © Fischer Verlage

Neben ihm gibt es eine Vielzahl von Sidekicks, wie zum Beispiel der oft in geisterhaften Sequenzen auftauchende amerikanische Old Shatterhand- und Kara Ben Nemsi-Darsteller Lex („LEX“) Barker. Oder die Belegschaft der knallig-verrückten Irren-Hilfs-und Pflegeanstalt des Doktor Güntz in Leipzig, ihren rätselhaften reisenden und schreibenden Insassen, den „Fragmentaristen“ („das Unerklärbare überwiegt doch im Fall des Fragmentaristen. Als wenn recherchiertes Wissen, angeeignete Details, die Authentizität dieser Texte in irgendeiner Art und Weise erklären würden …“), ein Haufen gestelzt und meist ziellos debattierender „Dottores“, ein eher trauriger, zusammengewürfelter Haufen Rechtsradikaler, die als Kämpfer bei den Kroatienkriegen auf schonungslose Art mit ihren eigenen Irrtümern konfrontiert werden, eine ominöse Gestalt namens Mr. Smith, möglicherweise ein Doppelagent des CIA und KGB und Jugoslawiens ehemaliger Staatschef Marschall Tito.
Als wenn recherchiertes Wissen, angeeignete Details, die Authentizität dieser Texte in irgendeiner Art und Weise erklären würden.
Es ist schon einiges los in Clemens Meyers großem Roman, und über weite Strecken wirkt dieses überbordende Geschehen wie eine gezielte Provokation. Es fällt schwer, Schritt zu halten mit den Zeitsprüngen, Ortswechseln („Warum bringen Sie dann New Leipzig, das in North Dakota liegt, ins Spiel? Da können Sie ja gleich auch Amerika in Sachsen und Inđija in der jugoslawischen Vojvodina erwähnen.“) und den zahllosen Figuren, von denen man einigen, aber bei weitem nicht allen im Verlauf der Geschichte wiederbegegnet. Meyer wechselt gekonnt und mühelos die Erzählstimme; humorvolle, ans Kalauernde grenzende Abschnitte reihen sich an brutale Kriegsszenen und abgehobene, geradezu surreale Konversationen.
Hört hört, der Indianer- und Menschenfreund Dr. May wäre stolz auf Sie, Kollege.
Die Lektüre dieses nicht nur im Umfang monumentalen Werks ist eine Herausforderung. Auch der Autor hat es sich nicht leicht gemacht und führt mit sicherer Hand durch eine Reihe von Kapiteln der jüngeren osteuropäischen Geschichte, deren komplexe Verwebungen unter seiner Regie magisch greifbar werden. Bei all diesem historischen Anspruch, und auch obwohl Meyer permanent verschachtelnd den eigenen Erzählfluss stört und selbst zu seinen wichtigsten Protagonisten immer eine ironische Distanz behält, ist es ein angenehm lesbares Buch geworden, ein reiches Geschenk für unerschrockene Literaturliebhaber*innen. Nicht zuletzt setzt es neue Maßstäbe für historische Literatur, die, ganz wie es der Cowboy mit seinem Boden tut, mit ungewöhnlichen Mitteln kräftig durchgemischt wird.

Die Projektoren wurde mit dem Bayerischen Buchpreis 2024 belohnt. Ich habe mich für Clemens Meyer gefreut, er hat ihn verdient.
 

Clemens Meyer: Die Projektoren. Roman
Frankfurt : S. Fischer, 2024. 1056 S.
ISBN: 978-3-10-002246-2