Rosinenpicker | Literatur  1945 – eine Chronik

Seiltänzerin über Köln, 1946
Seiltänzerin über Köln, 1946 © Unbekannt

Das Jahr 1945 war eine historische Zäsur. Ein Sachbuch des Filmemachers und Autors Volker Heise öffnet die Augen für die Vielzahl der Perspektiven auf dieses extrem ereignis- und folgenreiche Jahr.

Bücher, die eine Jahreszahl als Titel tragen, sind seit Längerem en vogue. Oft behandeln sie Jahre, die als epochemachend gelten. In Deutschland war Florian Illies mit 1913. Der Sommer des Jahrhunderts der erste Autor, der dieses Genre nicht nur zum Leben erweckte, sondern zudem sehr erfolgreich damit wurde.

Das Jahr 1945 markiert sowohl das Ende des Nazi-Regimes und des Zweiten Weltkriegs als auch den Beginn der Nachkriegszeit und den Übergang zur Nachkriegsordnung. Es war also eine der großen Zäsuren des 20. Jahrhunderts. Der Dokumentarfilmer Volker Heise widmet sich häufig historischen Themen. 2020 erschien sein Dokumentarfilm Berlin 1945 – Tagebuch einer Großstadt (zu sehen auf der Website der Bundeszentrale für politische Bildung). Nun hat Heise mit 1945 ein Buch veröffentlicht, das dieses Jahr ebenfalls tagebuchartig nacherzählt, wiederum mit dem Fokus auf Berlin. Er greift darin Vieles aus dem Film auf und vertieft es.

Heise: 1945 (Buchcover) © Rowohlt

Harter Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität

Chronologisch angeordnet von Dezember 1944 bis Dezember 1945 versammelt Heise Tagebucheinträge, Erinnerungen, Briefe und Archivmaterial, die er kontextualisiert. Geschickt nutzt er diese Collage-Technik, sodass ein vielstimmiges Zeitporträt entsteht. Damit zeigt er nicht nur die Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigem, sondern auch, dass es nicht eine, sondern viele Wirklichkeiten gibt. Neben dem Kriegsalltag ging eben auch das Leben der Menschen weiter. „Harter Bruch bei gleichzeitiger Kontinuität“, so nennt Heise in einem Radio 3-Interview das, was er mit seinem Sachbuch erzählen möchte.

Die meisten Beiträge umfassen nur einen Absatz oder weniger als eine Buchseite. Die Eindrücke und Erlebnisse einer Schülerin, eines jugendlichen Flakhelfers, eines Zwangsarbeiters oder eines sowjetischen Soldaten stehen gleichberechtigt neben solchen des Schriftstellers Erich Kästner, des Schauspielers Heinrich George, des Raketenforschers und SS-Sturmbannführers Wernher von Braun oder des sowjetischen Marschalls Georgi Konstantinowitsch Schukow.

Bomben und Kino

Bis zur Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai, mit der der Krieg in Europa endet, geht es darum, wie die Alliierten von Osten wie Westen immer tiefer ins Deutsche Reich vordringen. Dabei stoßen sie weiterhin auf zähen Widerstand und erleben bei der Befreiung der Konzentrationslager grausige Szenen. Ein BBC-Reporter berichtet:
Ich habe in den letzten Jahren viel Schlimmes gesehen, aber nichts war annähernd so schrecklich wie das Innere der Baracken von Bergen-Belsen.
Die Front rückt immer näher an die deutsche Hauptstadt heran, bis es schließlich zur Schlacht um Berlin kommt. Aus dem Osten strömen Flüchtlingstrecks ins Land, Berlin liegt in Schutt und Asche, die Zahl der Fliegeralarme wächst, sodass selbst die im Kriegsalltag noch möglichen Fluchten ins Kino davon unterbrochen werden: „Dann noch im Kino Truxa mit La Jana. Mitten in der schönsten Stelle kam Voralarm und gleich darauf Alarm. Schnell in einen Bunker“, schreibt eine Schülerin, und: „Bald kam Entwarnung, und der Film ging weiter.“

Die Zähne Adolf Hitlers

Je aussichtsloser die Lage wird, desto stärker versucht die NS-Propaganda, den Widerstandswillen der Bevölkerung am Leben zu halten. Doch die Fassade bröckelt, einem jugendlichen Flakhelfer fällt beim Betrachten eines Wochenschau-Filmchens über den Besuch Hitlers an der Ostfront im März auf, „dass er krank und alt aussieht, das Stehen und Laufen scheint ihm schwerzufallen, sein Arm hängt herab“.

Als Hitler schließlich Selbstmord begeht, zweifeln die Sowjets das zunächst an, sie wollen Beweise. Doch die sind angesichts des stark verkohlten Leichnams nicht so leicht zu beschaffen, sodass eine Übersetzerin der Roten Armee Hitlers Gebiss und Unterkiefer zu dessen Zahnarzt bringt, um den Diktator zu identifizieren. Der Zahnarzt ist geflohen, doch Röntgenaufnahmen sowie eine Zahnarzthelferin bestätigen: „Das sind die Zähne Adolf Hitlers.“

Dieses Volk ist verächtlich

Nach der deutschen Kapitulation entsteht zunächst ein Vakuum, die alte Ordnung existiert nicht mehr, die neue muss sich erst noch herausbilden. Als eine Jüdin in ihre Berliner Wohnung zurückkehrt, fasst sie die Reaktionen im Haus so zusammen: „Alle Mieter im Hause sind hoch erfreut, oder sie taten wenigstens so.“ Die Schriftstellerin Hertha von Gebhardt hat ebenfalls wenig Vertrauen in ihre Mitmenschen und notiert am 12. Mai 1945:
Auf einmal hat jeder Mitleid. Auf einmal war keiner Nazi … Noch vor vier Wochen haben die meisten gehofft. Dieses Volk ist verächtlich. Eines Tages soll es wieder wählen dürfen. Großer Gott!
Unter den Alliierten herrscht ebenfalls Misstrauen, insbesondere zwischen den Westmächten und den Sowjets. Jede Seite versucht bereits seit der Endphase des Krieges, Vorteile für sich herauszuschlagen.

Machtdemonstrationen

Die Amerikaner bringen die deutschen Raumfahrtwissenschaftler und Atomphysiker in die USA, müssen sie aber zunächst in ihre Besatzungszone transportieren, was in einem stark verwüsteten Land nicht leicht war. Einem Wissenschaftler aus Nordhausen wird Anfang Juni von einem amerikanischen Soldaten mitgeteilt, er solle Thüringen vor Mitternacht verlassen, mangels Fahrzeug erhält er die Anweisung: „Nehmen Sie einfach den Wagen des Bürgermeisters.“

Die Sowjets tragen nicht nur ganze Industrieanlagen ab und transportieren sie in ihre Heimat, sondern sie arbeiten in ihrer Besatzungszone daran, ein neues kommunistisches Ostdeutschland aufzubauen und fliegen dazu Walter Ulbricht und weitere deutsche KPD-Funktionäre aus Moskau ein. Ulbricht ordnet unter anderem an, dass vergewaltigte Frauen nicht abtreiben dürfen.

Es geht um Machtdemonstrationen. Am 10. Juni 1945 veranstalten die Westmächte in Anwesenheit des sowjetischen Generals Schukow eine Flugschau. Etwa 1700 amerikanische und britische Flugzeuge fliegen über Frankfurt am Main. „Eine beeindruckende Vorführung westlicher Luftmacht“, hält der britische Feldmarschall Bernard Montgomery fest, der die Soldaten der Roten Armee an anderer Stelle als „barbarische Asiaten“ bezeichnet.

Lebendige Geschichte

Der amerikanische Präsident Harry S. Truman ist Ende Juli auf der Potsdamer Konferenz froh, dass „weder Hitlers noch Stalins Meute“ die Atombombe einsetzen konnten, denn sie sei das „Schrecklichste“, das jemals erforscht wurde, „aber sie kann auch von Nutzen sein“. Er gibt den Befehl, die US-amerikanischen Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki vorzubereiten, die dann am 6. August und 9. August 1945 den Krieg in Asien beenden.

William L. Shirer, langjähriger amerikanischer Deutschland-Korrespondent, berichtet im November und Dezember 1945 von den Anfängen der Nürnberger Prozesse. Kurz vor seiner Abreise aus Deutschland schreibt er über dieses Land:
Sein Schicksal, sein Geist, sein Charakter, seine Kultur, seine Menschen (mit ihren barbarischen Exzessen und nun ihrem exzessiven Selbstmitleid) und schließlich sein schrecklicher Krieg – all das hat mein Leben fünfzehn Jahre gefangen genommen.
Hier konnten nur Bruchstücke aus Heises Buch herausgegriffen werden. Es ist ein wahres Füllhorn an Material, auf dessen Basis sich jede*r ein eigenes Bild machen kann und muss. Heise pädagogisiert nicht, gängelt einen nicht mit didaktischen Leitplanken, sondern macht Geschichte in vorbildlicher Art und Weise lebendig. Unbedingt lesenswert!
 
Volker Heise: 1945
Hamburg: Rowohlt, 2024. 464 S.
ISBN: 978-3-7371-0201-8