Postmigrantische Gesellschaften  Zur Bedeutung von Zugehörigkeit

The Importance of Belonging © Goethe-Institut

Die Migrationsfrage hat sich zu einer dominanten Chiffre für die demokratische Verfasstheit der Gesellschaften im Globalen Norden entwickelt. Man kann fast sagen, Migration ist zur neuen sozialen Frage des 21. Jahrhunderts geworden – an ihr verhandeln sich exemplarisch Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, der kulturellen Selbstbeschreibung, der Normen- und Werteorientierung und der politischen Fremdwahrnehmung.

Mit der zunehmenden Pluralisierung von Gesellschaften haben sich auch verschiedene Formen der Beschreibung ihrer gemeinsamen Räume etabliert. Konzepte wie Multikulturalismus, Superdiversität und Konvivialität spiegeln dabei unterschiedliche Versuche wider, die Art und Weise zu beschreiben, wie Zuwanderer und Einheimische zusammenleben und sich an die Anwesenheit des jeweils ‚Anderen‘ anpassen. Migration verändert die Sprachen, die die Einwandernden mitbringen ebenso wie die Sprachen der Länder, in die sie einwandern; sie erweitern politische Prämissen, kulturelle Praktiken und sogar die Geschichten, die sich Nationen über sich selbst erzählen. Diese Art der migrationsbedingten Pluralisierung wirkt sich auf Gesetze, Vorstellungen von Identität und von Zugehörigkeit aus. Für manche Menschen sind diese Veränderungen leicht zu akzeptieren – andere tun sich damit schwer.

Die Vorstellung von Einwanderern als die „Anderen“ hinter sich zu lassen

Das Konzept der postmigrantischen Gesellschaft bietet eine neue Perspektive für das Verständnis des durch Migration ausgelösten gesellschaftlichen Wandels. Das Präfix ‚post‘ bedeutet jedoch nicht, dass die Einwanderung beendet ist, es hebt vielmehr hervor, wie Migrant*innen und ihre Nachkommen längerfristig Anerkennung und Zugehörigkeit aushandeln und gleichzeitig die soziale, politische und kulturelle Landschaft der Länder, in die sie eingewandert sind, mitgestalten.

Nachdem Migration politisch als integraler Bestandteil der sozialen Komposition eines Landes anerkannt wird, erfordert es eine postmigrantische Perspektive, die Vorstellung von Einwanderern als die „Anderen“ hinter sich zu lassen. Eine postmigrantische Lesart bedeutet auch, die vorherrschenden Meta-Narrative über Migration zu durchleuchten und zu hinterfragen, ob es in den omnipräsenten Debatten um Migration, tatsächlich auch immer um Migration geht?

Mit der Einwanderung, Niederlassung und Integration unterschiedlicher Bevölkerungsgruppen erfolgt auch ein Wandel sozialer Normen und Werte. Eine Anpassung ist erforderlich, um mit der Zeit zu gehen und es zu ermöglichen, Pluralismus gemeinsam zu erleben. Eine Abkehr von starren nationalen Narrativen wird nötig werden, die – zumindest in Deutschland – jahrhundertelang auf Homogenität ausgerichtet waren. Eine Hinwendung zu flexibleren und inklusiveren Definitionen von Zugehörigkeit findet in – auch konfliktbelasteten – Aushandlungsprozessen statt. Das Konzept der Zugehörigkeit erlangt eine zentrale Bedeutung, da verschiedene Gruppen – seien es Migrierte, Minderheiten oder Mehrheitsbevölkerung – sich in der Komplexität von Identität, Anerkennung und Teilhabe in einer immer pluraler werdenden Demokratie zurechtfinden müssen.

„Heimat versus Gemeinschaft“: Ein Vergleich zwischen Kanada und Deutschland

Zugehörigkeit kann als ein dynamisches Konzept definiert werden, das durch den historischen, kulturellen und politischen Kontext jeder Gesellschaft geprägt ist. In Kanada und Deutschland, zwei sogenannte Einwanderungsländer, wird das Konzept der Zugehörigkeit innerhalb unterschiedlicher Rahmungen ausgehandelt. Dabei sind insbesondere die kanadische Multikulturalismus-Politik und die deutsche Integrationspolitik von Bedeutung. Obgleich beide Nationen vor Herausforderungen bei der Förderung integrativer Gesellschaften stehen, manifestieren sich in ihren Ansätzen zur Zugehörigkeit signifikante Unterschiede in der nationalen Identität sowie im Umgang mit Diversität.

Der Begriff der Zugehörigkeit ist nicht nur für Migrierte der zweiten und dritten Generation von Bedeutung, die hybride Identitäten verkörpern können. In biographischen und kulturellen Erfahrungen verweben sich imaginäre Erzählungen oder generationenübergreifende Traditionen aus den Herkunftsländern der Familien mit jenen der ehemaligen Aufnahmegesellschaft, die für viele bereits das Geburtsland ist. Darüber hinaus ist die Frage von Zugehörigkeit – oder Nicht-Zugehörigkeit – eine, die sich aus Erfahrungen von Ungleichheit und Diskriminierung speisen kann, die nichts mit Migration zu tun haben.

Im kanadischen Kontext sehen sich indigene Bevölkerungsgruppen wie die First Nations, Métis und Inuit, mit eigenen, spezifisch anderen Fragen zur Zugehörigkeit in einer von Eingewanderten aufgebauten Siedlerkolonialgesellschaft konfrontiert. In dieser umgekehrten Situation, in der Eingewanderte die einheimische Bevölkerung verdrängten, muss hinterfragt werden, ob die postmigrantische Perspektive – in der es vor allem darum geht, dass Eingewanderte und Nicht-Eingewanderte gemeinsam neue Zugehörigkeitsformeln etablieren – überhaupt Relevanz besitzt. Bei einer Übertragung des Konzepts auf den kanadischen Fall muss daher eher auf die spätere kanadische Siedlergesellschaft Bezug genommen werden. Diese setzt sich verspätet mit ihrer kolonialen Vergangenheit auseinander, während sie gleichzeitig in den letzten Jahrzehnten mit einem hohen Maß an Einwanderung konfrontiert ist.

Deutschland: Heimat und „Leitkultur“

Deutschland und Kanada haben zwei sehr unterschiedliche Ansätze zur Konzeptualisierung von Zugehörigkeit in postmigrantischen Gesellschaften. In Deutschland werden Diskussionen über Zugehörigkeit oft durch den Begriff ‚Heimat‘ geprägt, der eine starke emotionale und historische Bedeutung hat. ‚Heimat‘ wird traditionell mit kulturellem Erbe, Identität und einem Gefühl der Verwurzelung in Verbindung gebracht, was das Wort zu einem mächtigen und umstrittenen Begriff in Debatten um Inklusion und Exklusion macht. Das Konzept der Heimat spiegelt den politischen Fokus des Landes auf kulturelle Kontinuität und Identität wider. Neben dem Begriff der Leitkultur taucht der Begriff Heimat alle Jahre wiederkehrend in öffentlichen Debatten auf und erlangt Aufmerksamkeit, ohne jemals klar definiert zu werden.

Kanada: Community

Im Gegensatz dazu betont man in Kanada vor allem die „Community“ - die Gemeinschaft – oder besser Gemeinschaften, im plural, als Möglichkeit, unterschiedliche kulturelle Hintergründe miteinander in Bezug zu bringen ohne sie zu verlieren, und gleichzeitig gemeinsame Werte zu fördern. .. Kanada ist bekannt für seine offizielle Politik des Multikulturalismus, die schon 1971 eingeleitet wurde und die nicht auf Assimilation, sondern eher auf Koexistenz verschiedener Kulturen setzt. Das Konzept der Zugehörigkeit in Kanada ist von diesem Bekenntnis zur Inklusivität geprägt, bei dem Eingewanderte ermutigt werden, ihr kulturelles ‚Erbe‘ zu bewahren, während sie ich in die kanadische Gesellschaft einbringen. Dieses Modell wird durch Richtlinien untermauert, die den kulturellen Ausdruck, die Sprachenvielfalt und den Schutz vor Diskriminierung fördern. Die Zugehörigkeitsfrage ist in Kanada jedoch nicht ohne Herausforderungen. Indigene Gemeinschaften, die ihre Souveränität und Landrechte geltend machen, sehen ihr Zugehörigkeitsgefühl oft durch das anhaltende Erbe des Kolonialismus in Frage gestellt. Ebenso sehen sich rassifizierte Minderheiten, darunter schwarze und muslimische Kanadier*innen, mit systemischen Barrieren wie Diskriminierung am Arbeitsplatz und sozialer Ausgrenzung konfrontiert. Während Kanadas Multikulturalismus gefeiert wird, erleben diese Teilgemeinschaften oft Formen der Zugehörigkeit unter Vorbehalt.

Die Entwicklung Deutschlands hin zu einer multikulturellen Gesellschaft

Deutschland stand dem Multikulturalismus historisch eher zögerlich gegenüber. Lange Jahre bezeichnete Deutschland sich selbst nicht als Einwanderungsland, trotz der Anwesenheit einer großen Zahl sogenannter Gastarbeiter*innen und ihren Nachkommen. Das Konzept einer Leitkultur, das die Assimilation in einen deutschen Kulturrahmen betonte, prägte viele Jahre lang die Integrationspolitik. Dieser politische Ansatz wurde immer stärker kritisiert und Deutschland hat sich seit 2001, als das Land sein Staatsbürgerschaftsrecht änderte und sich offiziell als Einwanderungsland anerkannte, immer weiter verändert. In den letzten zehn Jahren ist Deutschland zu einem globalen Migrationsakteur geworden und die Bevölkerung des Landes wird immer vielfältiger. Deutschland steht nun weltweit an zweiter Stelle – direkt hinter den USA – was die absolute Zahl internationaler Migrierter betrifft, und gehört zu den fünf Ländern, die die meisten Flüchtlinge aufnehmen. Die Flüchtlingskrise von 2015 und der Ukrainekrieg im Jahr 2022 haben das soziale Gefüge des Landes weiter verändert. Ökonomen und die Mehrheit der Bevölkerung sind der Meinung, dass diese Veränderungen vorteilhaft waren, während rechtspopulistische Parteien, die an Einfluss gewonnen haben, das Gegenteil behaupten.

Zunehmender Nationalismus, Debatten über kulturelle Identität und ein fehlender Konsens darüber, was „deutsche“ Zugehörigkeit ausmacht, erschweren diesen Prozess.

Beide Modelle – das deutsche und das kanadische – stehen vor Herausforderungen. In Deutschland muss die Neuinterpretation des Heimatbegriffs tief verwurzelte Vorstellungen von kultureller Exklusivität überwinden. In Kanada zeigen struktureller Rassismus und die anhaltende Diskriminierung indigener Völker und rassifizierter Minderheiten die Grenzen des multikulturellen Rahmens auf. Das Konzept der „Gemeinschaft“ bietet zwar eine breite Grundlage für die Anerkennung von Vielfalt, führt jedoch nicht automatisch zu einer gerechten sozialen Inklusion oder zum Abbau struktureller Barrieren.

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