Wuchernde Kunst  Würde Marie Kondo den „Merzbau“ aufräumen?

 Rekonstruktion des "Merzbau" (1981-1983) von Kurt Schwitters © picture alliance/dpa | Christophe Gateau

Der ausufernde „Merzbau“ des deutschen Künstlers Kurt Schwitters ist ein genialer Akt künstlerischer Rebellion. Aber wie passt er in eine Welt, in der alles minimalistisch und aufgeräumt sein soll? Autorin Saskia Trebing wagt einen Blick in diese Architektur des Maßlosen.

Kurt Schwitters und Marie Kondo sind sich nie begegnet. Wie auch? Bei Ersterem handelt es sich schließlich um einen 1948 verstorbenen deutschen Künstler, der als einer der prominentesten Vertreter des Dadaismus gilt. Und Letztere ist eine 1984 im Raum Tokio geborene Japanerin, die sich als Aufräumexpertin einen Namen gemacht hat und mit Tipps für äußere und innere Ordnung zur Bestsellerautorin und zum Netflix-Star wurde. „Does it spark joy?“ –   die Frage, die Kondo zu jedem herumliegenden Objekt empfiehlt, ist ein Mantra in überdekorierten Wohnzimmern weltweit geworden.

Die Kunst beherrschte die Architektur

Trotz ihrer inkompatiblen Lebensdaten würde man die beiden in irgendeinem alternativen Universum gern mit einem Getränk ihrer Wahl an einen Tisch setzen. Denn in Kondos System aus perfekt gerollten T-Shirts und streng begrenztem Besitz wären Kurt Schwitters und sein Hang zum Wuchernden sicher ein besonders herausfordernder Fall.

Vermutlich 1923 begann der Künstler, eine Wohnung im Haus seiner Eltern in Hannover Stück für Stück in eine Assemblage zu verwandeln, die er Merzbau nannte. Das aus verschiedenen Materialien zusammengesetzte Kunstwerk ähnelt einem dreidimensionalen abstrakten Gemälde, in dem sich geometrische Formen bekämpfen, bedingen und immer weiter fortpflanzen. Irgendwann war keine Wand mehr zu sehen, die Kunst beherrschte die Architektur und erschuf einen völlig neuen Raum.

Obwohl diese Strategie des ewigen Wachsens dem komfortablen Wohnen sicher nicht zuträglich war (der psychischen Hygiene des Künstlers offenbar zeitweise ebensowenig), gelang Schwitters mit seiner Installation etwas gestalterisch Außergewöhnliches. Er schuf einerseits die erste begehbare Collage der westlichen Kunstgeschichte, die an eine surrealistische Version einer Kathedrale und den Formenrausch von expressionistischen Filmkulissen denken lässt. Gleichzeitig kann man den Merzbau auch ganz wörtlich als eine Höhle verstehen – eine fast archaische Konstruktion, in die ein Tier immer neue Materialien zum niemals vollendeten Nestbau schleppt.

1937 floh Kurt Schwitters, der von den Nationalsozialisten als „entartet“ diffamiert wurde, ins Exil nach Norwegen. Dort entstanden zwei weitere Merzbauten in Lysaker bei Oslo und auf einer Insel vor Molde. Einen letzten Versuch startete der Künstler mit der Merz Barn, einer Scheune in seinem letzten Wohnort Elterwater in England. Keines der Werke ist vollständig erhalten.

Eine radikale Lust am Maßlosen

Folgt man Marie Kondos Credo, dass die Befreiung von materiellem Ballast auch zu innerer Hosen gefaltet nach der Methode von Marie Kondo in einer Schublade Hosen, gefaltet nach der Methode von Marie Kondo. | © Shutterstock Erleichterung führen kann, hätte man Schwitters wohl zum Wechsel der Stilrichtung geraten. Schließlich gibt es auch in der Kunst genügend Beispiele für Minimalismus, bei dem Reduktion zur ästhetischen Konzentration und spirituellen Erlebnissen führen kann. Andererseits zeigen die Merzbauten eine radikale Lust am Maßlosen, die ebenfalls kathartisch ist. Sie entzieht sich einer Welt, die Ordnung und Optimierung verlangt, und in der das Anhäufen von Dingen schnell als pathologisches Messietum abgewertet wird.

Für Schwitters war die Kunst etwas, das Absolutheit verlangte und ihm buchstäblich über den Kopf wuchs. Auch in dieser Logik hat jedes Ding seinen Platz, irgendwann existieren die Formen jedoch nur noch als Einheit und können nicht mehr unabhängig voneinander betrachtet werden. Sie werden größer als ihr Schöpfer selbst. Sogar für Marie Kondo wäre es unmöglich, einen Merzbau aufzuräumen.

Does it spark joy?

Auch 75 Jahre nach seinem Tod üben Schwitters‘ Werke noch immer große Faszination auf Künstlerinnen und Künstler aus. Vielleicht ist die Kunst einer der seltenen Bereiche, in denen eine solche Opulenz möglich ist, ohne dass sie sofort mit kapitalistischer Gier verbunden wird. Ein künstlerisches „Immer mehr“ führt auf riskantes Terrain, wo Monströses entstehen kann, aber auch ganze Welten erbaut werden. Etwas wie der Merzbau kann nur entstehen, wenn sich eine Person von der Kategorie des Angemessenen freimacht und für ihr Schaffen keine Grenzen mehr akzeptiert. Der norwegische Autor Karl Ove Knausgaard hat einmal über seine mehrere tausend Seiten starke autofiktionale Roman-Reihe Min kamp gesagt, dass ihm die ersten Aufzeichnungen über sein Leben zu belanglos vorkamen und er sie kürzen wollte. Dann habe er jedoch eine entscheidende Erkenntnis gehabt. „Wenn etwas nicht interessant genug ist, mach‘ nicht weniger davon. Mach‘ mehr. Immer mehr.“ 

Falls sich Marie Kondo diesen unordentlichen Herrn Schwitters und seine materiellen Wucherungen einmal genauer ansehen möchte – eine Replik des Merzbaus findet sich im Sprengel Museum in Hannover, und das Henie Onstad Senter bei Oslo will die Reste des Hauses in Lysaker konservieren und zugänglich machen.

Bleibt die ewige  Kondo-Frage: Does it spark joy? Ja, zweifellos. Und Irritation, Unbehagen und Faszination. Wie es gute Kunst eben tut.  
 

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