Ich bin erfolgreich. Ich bin eine Frau. Ich bin verwitwet. Ich habe zwei Söhne und eine Tochter großgezogen, eine Literaturagentur gegründet, als Fundraiserin gearbeitet und drei Romane geschrieben. Man kann mich auf eine Bühne stellen, kriegt selbstgemachte Cantuccini und selbstgemachtes Tomaten-Chutney von mir serviert und wird mich kaum je im nicht präsentierfähigen Modus erwischen. Die Version, die ich anderen von mir zugestehe, ist eine Mischung aus Elastigirl und Artemis.
Aber ich bin eben auch die Frau, die jahrelang mehr oder weniger unauffällig getrunken hat, um diesem Bild zu entsprechen.
Und so ernte ich, als ich 2021 für drei Monate in eine Suchtklinik gehe, ungläubige Nachfragen. Weil ich nicht der Version entspreche, die mein Umfeld von einer Alkoholikerin hat.
In ihrem brillanten Essay „Enjoli“ bemüht Kristi Coulter einen Parfüm-Werbeclaim aus den 70er-Jahren („Enjoli — The 8-hour perfume for the 24-hour woman“), um zu zeigen, welchen Kraftakt einer Frau der Versuch abverlangt, einer Version von sich gerecht zu werden, der sie glaubt, entsprechen zu müssen. Das Bild von der durch den Werbespot schwebenden Powerfrau, die mit perfekter Föhnwelle Speck bratend am Herd steht und dem Ehemann erotische Versprechungen macht, mag abgelöst sein. Aber die Vorstellung von einer bestimmten Version, der es gerecht zu werden gilt, die hat sich gehalten. Genau wie die Scham darüber, dieser Version nicht zu entsprechen: nicht genug zu sein, nicht genug zu können, nicht genug zu kriegen. Nicht genug Anerkennung, nicht genug Wertschätzung. Nicht schön genug, nicht erfolgreich genug, nicht gut genug als Mutter, nicht selbstbewusst genug, nicht durchsetzungsfähig genug. Aber statt darüber nachzudenken, wie sich Faktoren, die zu diesem Gefühl der Unzulänglichkeit beitragen, abschalten ließen, schalten wir lieber ab. Und betäuben die Scham. Scham und Alkohol sind ein Dream-Team.
In der griechischen Mythologie verschenken die Götter eine Büchse mit der Auflage, sie nicht zu öffnen. Die Konsequenz ist bekannt: eine Frau, Pandora, öffnet die Büchse, lässt den Inhalt entweichen und hat fürderhin jede Menge Anlass, sich zu schämen. Statt aber hinzugucken, was es mit dem entwichenen Elend auf sich hat, locken wir es lieber gelegentlich unter einem Vorwand zurück in die Büchse und verschließen die Öffnung mit einem wirkungsvollen Stöpsel. Dieser Stöpsel ist der Alkohol.
Was ich gemacht habe, ist, den Stöpsel zu ziehen und zuzulassen, was dahinter zum Vorschein kommt. Damit ergänze ich vielleicht die Version, die andere von mir haben, um eine weitere Zuschreibung: um die der Alkoholikerin. Aber ich befreie mich auch von anderen. Denn wenn ich trinke, um etwas nicht zu spüren, nicht zu sein oder nicht zu sehen, bedeutet, nicht mehr zu trinken, im Umkehrschluss: zu spüren und sehen, was da ist. Mit derjenigen zu leben, die ich dann vorfinde. Elastigirl und Artemis den Platz auf ihrer Säule zu überlassen und die Grenzen dessen, was ich mir zu fühlen, denken, leisten und sein erlaube, neu zu vermessen.
Christine Koschmieder und ihre Geschichte
„Endlich trocken“ von Christine Koschmieder
September 2023