335 Schildkrötenarten gibt es, aber viele sind vom Aussterben bedroht. Eine deutsche Arbeitsgemeinschaft kümmert sich weltweit um den Erhalt der wohl letzten Dinosaurier.
Es war wohl eine Liebe auf den ersten Blick: Als kleiner Junge stand Mario Herz oft neugierig vor dem Schaufenster der örtlichen Zoohandlung, die Schildkröten im Geschäft ließen ihn nicht mehr los. Nach vielem Bitten und Betteln ließ sich seine Mutter schließlich erweichen. „Es war mein allergrößter Wunsch“, erinnert er sich. Schließlich hatte der Hang zu Kleintieren in der Familie auch schon eine gewisse Tradition, schon sein Vater war Aquarianer.
Aus der einen Schildkröte und aus dem kindlichen Interesse wurde ein Hobby und eine Herzensangelegenheit des heutigen Mittfünfzigers. Herz ist Vorsitzender der Schildkröten Arbeitsgemeinschaft (AG), einer Untergruppierung der Deutschen Gesellschaft für Herpetologie und Terrarienkunde (DGHT). In der AG engagieren sich rund 600 Mitglieder seit 50 Jahren für die Arterhaltung der Schildkröten, auch international. Gegründet wurde sie in der früheren DDR. Nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten 1990 wurde daraus eine gesamtdeutsche Arbeitsgruppe — denn Schildkrötenfreunde gab es auch im Westen.
Dabei kommt in Deutschland in freier Wildbahn eigentlich nur die Sumpfschildkröte vor. Inzwischen drängt jedoch mit der Schmuckschildkröte eine invasive Art ins Land. „Sie sind größer und machen der Sumpfschildkröte den Raum streitig“, erläutert Herz. Zwar setzen auch manche Besitzer*innen fremder Arten ihre Tiere in der freien Wildbahn aus, doch deren Überlebenschancen sind in der Regel gering. „Die schaffen keinen harten Winter.“
Rettungsaktion in Madagaskar
Herz muss es wissen, denn am heimischen Teich schwimmen oder kriechen inzwischen 80 der kleinen Reptilien. Deren Vielfalt ist beträchtlich: Rund um den Erdball gibt es 335 Arten, aber viele davon sind vom Aussterben bedroht. Die Schildkröten AG engagiert sich deshalb in internationalen Projekten, die ihrem Schutz dienen.
Zum Beispiel in Madagaskar: Von den madagassischen Behörden wurden im April 2018 in einem kleinen Haus an der Südwestküste des Landes mehr als 10.000 der vom Aussterben bedrohten Strahlenschildkröten beschlagnahmt. Die Schildkröten waren als illegale Delikatesse und als Haustiere für den Fernen Osten bestimmt. Sie vegetierten in ihrem eigenen Kot und hatten keinen Zugang zu frischer Luft, Nahrung, Wasser oder Sonnenlicht. Tausende waren mehr tot als lebendig, Hunderte bereits gestorben. Mit Hilfe der Arbeitsgemeinschaft Artenschutz kümmerten sich die Deutschen um die Tiere. Die meisten der geretteten Strahlenschildkröten wurden in der Tierauffangstation Lavavolo bei Itampolo untergebracht. Die Schildkröten bekommen nun eine zweite Chance auf ein Leben in freier Wildbahn. Aktuell werden die Auswilderungen geplant.
Achtung, Schildkröten! Straßenschild in Georgia, USA.
| Foto (Detail): © Adobe
Auch in den USA, Japan, China oder Vietnam unterstützt die Schildkröten AG Artenschutzprojekte. „Das ist eine internationale Community“, freut sich Herz über das globale Netzwerk der Reptilienfreunde. Im Verein sind auch zahlreiche Wissenschaftler*innen aktiv. Sie erstellen zum Beispiel Studien zur Zuchtbarkeit der Kröten und arbeiten dem Washingtoner Artenschutzabkommen zu. Die „Convention on International Trade In Endangered Species of Wild Fauna and Flora“ (Cites) will einen nachhaltigen internationalen Handel mit gefährdeten Arten durchsetzen. Hilfreich ist hierbei eine seit 1979 erhobene Nachzuchtstatistik der Mitglieder der DGHT AG Schildkröten, welche weltweit seinesgleichen sucht. Die erhobenen Daten helfen dabei einzuschätzen, ob eine Art tatsächlich in Menschenobhut gut zu vermehren ist.
Uralte Überlebenskünstler
Zum Erhalt der Vielfalt tragen auch einzelne Mitglieder wie Stefan Merz aus dem schwäbischen Reutlingen bei, dem die Nachzucht von Seychellen-Riesenschildkröten gelungen ist. Weitere Unterstützung kommt von Zoologischen Gärten. In Münster etwa wurden vietnamesische Sumpfschildkröten nachgezogen, die nun auf die Auswilderung in ihrer natürlichen Heimat vorbereitet werden. Dafür wird das Gehege nach und nach immer weiter vergrößert, bis es den artgerechten Bewegungsraum nachstellt.
Für einen vergleichsweise kleinen Verein bewirkt der Schildkröten AG weltweit einiges. „Wir sind eine Randgruppe“, räumt Herz trotzdem ein, „jeder von uns ist Artenschützer.“. Herz faszinieren die Reptilien auch nach 50 Jahren noch immer. „Ich finde sie einfach schön, diese urigen Panzer“, sagt er, „letztlich sind es Dinosaurier“. Tatsächlich sind beide wohl verwandt, wie Forschungen ergaben. Auf jeden Fall sind Schildkröten Überlebenskünstler: Es gibt sie seit über 200 Millionen Jahren nahezu unverändert.
September 2023