Dieses Essay wurde beim „Sapere Aude“ Essay-Wettbewerb des Goethe-Instituts USA eingereicht und erreichte den zweiten Platz unter den High-School-Einreichungen. Ursprünglich auf Deutsch verfasst, erscheint es hier in der Originalsprache ohne Übersetzung.
„En garde, prêt, allez!“ Beide Fechterinnen, stürmen mit meterlangen, fingerdicken Metallklingen aufeinander zu. Der Kampf dauert nur ein paar Sekunden. Durch Finten, Paraden, Reposte und schnelle Reaktionen versucht jede, die andere in eine der lange geübten Fallen zu locken. Der Säbel saust durch die Luft. Die Abwehr scheitert. Die blitzende Klinge trifft die Gegnerin an der Seite der silberglänzenden Maske. Klarer Punkt für die Angreiferin.Der Schiedsrichter steht in der Mitte, direkt an der 14 Meter langen Fechtbahn. Er hat ein klares Blickfeld und kommt sofort zu einer Entscheidung. Seine rechte Hand schnellt nach oben: „Attack, premier no, reposte, touche point.“ Säbellatein? Fast: Fechtfranzösisch. Und nun reißt nicht die Frau links, sondern die rechts ihre Faust in die Luft, um ihren Punkt zu feiern: „Let’s gooooo!“
Und links? Aussichtslose Bemühungen, den Schiedsrichter umzustimmen. Ein Fechten mit Worten, das vergeblich bleibt. Der Angriff war doch korrekt! Die Attacke richtig vorbereitet! Doch der Einspruch wird ignoriert. Letzte Versuche: Mit den Händen werden die Umrisse eines Bildschirms in die Luft gezeichnet. Durch die Masken sind die Gesichter nur wie hinter einem Gitter zu erkennen. Doch auch hier: Videobeweis? Das nachträgliche Überprüfen der Entscheidung? Keine Chance. Der Schiedsrichter winkt ab. „Räsoniert, soviel ihr wollt, und worüber ihr wollt; aber gehorcht“. Nach diesem von Immanuel Kant in Was ist Aufklärung? zitiertem Satz wird auch hier verfahreni. „En garde, prêt, allez!“ Weiter geht es.
Nur eine kleine Ungerechtigkeit, sicher. Aber doch zugleich eine mit zumindest potenziell großen Auswirkungen. Denn während die Willkür einzelner Kampfrichter in anderen Sportarten wie etwa im Eishockey längst eingeschränkt worden ist, gilt im Fechten nach wie vor: Die Entscheidungsgewalt der Schiedsrichter ist (fast) absolut. Da die Regeln im Säbelfechten kompliziert sind, sind die Entscheidungen des Schiedsrichters oft fehleranfällig. Aber der „Ref“ ist allwissend, und seine Entscheidung in diesem Moment unantastbar. Erinnert das an einen neutralen Helfer oder doch eher an einen Despoten, der wie Kant im Ewigen Frieden schreibt, das Prinzip „der eigenmächtigen Vollziehung (...) von Gesetzen, die er selbst gegeben hat” darstellt?ii Das Ergebnis dieser eigenmächtigen Vollziehung aber muss anerkannt werden - und wird es auch.
Na und? Könnte man fragen, ist das wichtig? Ist es nicht gleichgültig, wer in so einem Zeitvertreib Punkte einstreicht? Ganz zu schweigen von dem militaristischen Kontext. Sind nicht von Kant höchstselbst nur kritische Anmerkungen zum Kampf mit Säbel und Degen überliefert? Stimmt: Kant kritisierte den Kampf um Leben und Tod, der zu seinen Lebzeiten vor 300 Jahren noch gang und gäbe war. Doch natürlich unterscheidet sich das Klingen-Kreuzen um die Ehre auf dem Siegerpodest von dem Verhalten der „Nichtswürdigen, die ihr Leben aufs Spiel setzen, um etwas zu gelten“, wie Kant die Duellfechter in der Anthropologie bezeichnet.iii
Sicher aber darf man annehmen, dass Kant mit Blick auf den heutigen Fechtsport aus ganz anderen Gründen Bedenken hätte. Und zwar aus Überlegungen, die mit persönlicher Autonomie und Moral zu tun haben, und mit der Frage, was die Unterordnung unter Ungerechtigkeit für den Einzelnen und das System bedeutet.
Wie viele Sportarten ist auch das Fechten mehr als nur eine folgenlose Passion. Das fängt schon bei den Kosten an. Ja: Fechten ist nicht Polo oder Regattasegeln. Man braucht weder ein Gestüt noch eine Segelyacht. Doch Fechten ist ein teures Hobby, ein Statussymbol und immer häufiger entscheidend für die Zukunft vieler Menschen – gerade in den USA.
Denn wie andere College-Sportarten auch kann der Fechtsport hier als Eintrittskarte in akademische Kreise und in die exklusiven Hallen amerikanischer Eliteuniversitäten dienen. Weltberühmte Hochschulen wie Harvard oder Columbia wählen ihre Studierenden schließlich nicht nur nach akademischen, sondern auch nach sportlichen Fähigkeiten aus. Mit viel Geld unterhalten Universitäten Fechtteams, organisieren Wettkämpfe und fliegen um die halbe Welt, um an internationalen Turnieren teilzunehmen. Für erfolgreiche junge Fechter wird der Sport so zu einer Art Express-Ticket in die Elite. Der Fechtsport bietet nicht nur eine Plattform für den Wettkampf, sondern wird auch zu einem Mittel für sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg. Darin spiegelt der Sport jedoch eine Geschichte der Exklusivität und des Ausschlusses wider, die ihm immer schon eigen war.
Denn historisch betrachtet ist Fechten keine Sportart, sondern eher eine Kampfkunst, die es Männern der traditionellen europäischen Elite ermöglichte, ihre Ehre zu verteidigen. Fechten war, anders als etwa Fußball, historisch immer eine Angelegenheit der Oberschicht. Im Fechten traf nicht irgendwer auf irgendwen, sondern Gentlemen, Herren oder Monsieurs nur auf vermeintlich ebenbürtige Gegner. Ein einfacher Bauer hatte nicht das Recht, sich zu duellieren. Er war nicht satisfaktionsfähig. Von Frauen ganz zu schweigen. Damit ähnelt das Fechten anderen elitären Sportarten wie Golf oder Tennis, die ebenfalls soziale Mobilität beeinflussen und auf eine lange Historie in der Geschichte europäischer Privilegien zurückblicken.
Das ist jedoch nicht nur ein soziales und politisches, sondern auch ein philosophisches Problem. Denn aus der Perspektive Immanuel Kants verstößt die Praxis der schweigenden Akzeptanz von Ungerechtigkeit im Fechtsport gegen grundlegende moralische Prinzipien: gegen die Ideen des kategorischen Imperativs.
Der kategorische Imperativ besagt in einer oft zitierten Version, dass alle Menschen ihr Verhalten nach universell gültigen Prinzipien ausrichten sollten. Kant formulierte dies so: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“.iv Doch zu welchem Schluss kommt man, wenn man den kategorischen Imperativ auf die Praxis im Fechtsport anwendet?
Verstößt die willentliche Unterordnung der Fechter unter die absolute Entscheidungsmacht der Schiedsrichter und deren unhinterfragte Machtposition nicht gegen die Prinzipien des kantischen Imperativs? Denn schließlich kann ihr Verhalten in diesem Punkt nicht als Richtschnur für allgemeines Verhalten betrachtet werden. Ist es akzeptabel, sich blind intransparenten Einzelentscheidungen zu unterwerfen, nur um die eigene spätere Karriere zu befördern, und legitimiert dabei das Verhalten nicht die Unmoral? Und: Ist es in Ordnung, sich an einem Wettkampf zu beteiligen, der faktisch eben nicht allen Menschen offensteht?
Kant fordert, dass jeder Mensch als autonomes Wesen handeln sollte, ohne sich blindem Gehorsam zu unterwerfen. Betrachtet man den Fechtsport aus dieser Perspektive, wird deutlich, dass zunächst die absolute Macht des Schiedsrichters die Autonomie des Fechters untergräbt und dem Prinzip vernunftgeleiteten Handelns widerspricht. Zudem verstößt auch eine solche Schiedsrichterrolle gegen den kategorischen Imperativ. Natürlich sind nicht alle Schiedsrichter ungerecht. Im Gegenteil, viele geben sich die allergrößte Mühe, sportlich und fair zu sein. Doch die Regeln des Systems insgesamt, zwingen die Teilnehmenden zum Hinnehmen der Ungerechtigkeit.
Im Fechtsport ist die Akzeptanz der Unterordnung trotz offensichtlicher möglicher Ungerechtigkeit tief verwurzelt. Viele Fechter erkennen die Probleme im Schiedsrichterwesen, die vor rund zwei Monaten im Vorfeld der Olympischen Spiele auch international für Schlagzeilen gesorgt haben. Von einer „Cloud of Accusations” sprach etwa der Britische Guardian.v Doch offenbar akzeptieren Viele das System als notwendigen Schritt für ihre akademischen und beruflichen Ziele. Und zu diesem System gehöre als Fechter auch ich.
Immer wieder wird berichtet, dass Einzelne die Lücken in den Regeln sogar bewusst nutzen, um sich Vorteile zu verschaffen, etwa indem sie Schiedsrichter manipulieren und sich so an die Spitze der Ranglisten setzen. Sicher nicht von allen. Nicht einmal von der Mehrzahl der Sportlerinnen und Sportler. Aber das System als solches wird durch die stillschweigende Akzeptanz dieser Praxis durch die Beteiligten belastet.
So wird individuelle Autonomie zugunsten von egoistischen Vorteilen geopfert. Kants Philosophie betont jedoch, dass Autonomie und vernünftige Entscheidungsprozesse im Mittelpunkt stehen müssen. Das gilt auch bezogen auf die Ungerechtigkeit in Zugang zum Leistungssport insgesamt. Denn in einem System, das von Geld befeuert wird, stehen die Sportler eben auch in erster Linie als zahlende Bereitsteller von Geld im Mittelpunkt. In dem Sinne aber, sind sie nicht Zweck, sondern Mittel. Ein klarer Verstoß gegen Kants Prinzipien.
Welche Möglichkeiten gibt es also Fairness im System zu stärken? Sollen nach Kant die Fechter Widerstand leisten? Offen rebellieren? Oder vielleicht sogar in der Hitze des Gefechts den nächsten Angriff gegen den - gar nicht so - Unparteiischen richten? Natürlich nicht. Und doch ergibt sich aus der Lage nicht nur die Möglichkeit, sondern vielleicht sogar die Pflicht der Beteiligten, aus ethischen Grundsätzen mehr zu tun, als resigniert die Ungerechtigkeit zu akzeptieren und durch Teilnahme zu rechtfertigen.
In den letzten Jahren gab es im Fechtsport Reformversuche. Zum Beispiel wurden einzelne Schiedsrichter aus dem Sport entfernt. In den vergangenen Monaten gab es im Fechtsport intensive Debatten mit tausenden von Kommentaren, die sich genau diese Fragen stellen. Doch ohne systemische Veränderungen bleibt die Ungerechtigkeit erhalten. Liegt der ausbleibende Erfolg daran, dass diese Reformen nur Stückwerk sind und nicht den Sport als Ganzes in den Blick nehmen – geleitet von moralischen Prinzipien?
Was wäre zu tun? Einerseits müsste die Exklusivität des Sports deutlich reduziert werden. Zum Fechten braucht es keinen Golfplatz. Alles, was es braucht, sind 15 Meter Hallenboden. Auch auf elektronische Anlagen kann verzichtet werden. Und eine Fechtausrüstung kostet nicht mehr als ein Football-Outfit. Also spricht nichts dagegen, auch an Schulen mit dem Fechten zu beginnen und so die Hürden zu verringern. Es könnten auch gezielt Mechanismen eingeführt werden, die die Entscheidungen der Schiedsrichter transparenter und überprüfbarer machen. Kant würde Reformen unterstützen, die den Fechtern mehr Mitsprache ermöglichen, ohne den sportlichen Geist zu untergraben. Fechter sollten das Recht haben, sich gegen ungerechte Entscheidungen des Schiedsrichters zu wehren. Auch technische Lösungen wie VideoAssistenten könnten helfen, das System gerechter und transparenter zu gestalten - auch wenn Kant sich Videokameras natürlich nicht hätte erträumen können.
Die Anwendung kantischer Prinzipien im Fechtsport könnte nicht nur die Autonomie der Fechter stärken, sondern den Sport insgesamt offener machen. Die Integration von mehr Fairness würde den Fechtsport nicht nur auf ethischer Ebene stärken, sondern ihn auch für zukünftige Generationen attraktiver machen. Natürlich: Kant war nicht gerade als Sportskanone bekannt. Er ging höchstens spazieren - und zwar jeden Tag zur gleichen Zeit.vi Aber zugleich war er davon überzeugt, dass der oder die Einzelne ihre Talente durchaus fördern sollten. In der Metaphysik der Sitten spricht Kant von einem Menschen mit einer Begabung, welche „vermittelst einiger Kultur ihn zu einem in allerlei Absicht brauchbaren Menschen machen könnte” und empfiehlt die „Erweiterung und Verbesserung seiner glücklichen Naturanlagen”.vii Deshalb gilt neben Sapere aude bezogen auf das Säbelfechten eben auch: „En garde, prêt, allez!“. Sabre Aude!
Literatur und Quellen
1. Bayerischer Rundfunk. 2011. "Freier Geist mit festem Wohnsitz." www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/kant-fuer-anfaenger/biografie100.html. Zugriff am 3. Oktober 2024.
2. Kant, Immanuel. 2015. Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Becker. Mit einem Nachwort von Hans Ebeling. Reclam.
3. Kant, Immanuel. 2022. Zum ewigen Frieden. Books on Demand.
4. Kant, Immanuel. Gesammelte Schriften. Herausgegeben von der Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bände 1–22; Deutsche Akademie der Wissenschaften Berlin, Band 23, 1900 ff.
5. Lawrence, Andrew. 2024. "Fencing Enters Olympics Under Cloud of Accusations and Referee Bans." The Guardian, 27. Juli. Zugriff am 3. Oktober 2024. https://www.theguardian.com/sport/article/2024/jul/27/fencing-enters-olympics-undercloud-of-accusations-and-referee-bans.
6. Kant, Immanuel. "Was ist Aufklärung?" Rosa Luxemburg Stiftung. www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf. Zugriff am 3. Oktober 2024.
i Kant, Immanuel. Was ist Aufklärung? Rosa-Luxemburg-Stiftung, www.rosalux.de/fileadmin/rls_uploads/pdfs/159_kant.pdf. Zugriff am 3. Oktober 2024.
ii Kant, Immanuel. Zum ewigen Frieden. Books on Demand, 2022.
iii Kant, Immanuel. Anthropologie in Pragmatischer Hinsicht. Herausgegeben und eingeleitet von Wolfgang Becker. Reclam, 2015.
iv Kant, Immanuel. Gesammelte Schriften. Hrsg.: Bd. 1–22 Preußische Akademie der Wissenschaften, Bd. 23, Deutsche Akademie der Wissenschaften Berlin, 1900ff.
v Lawrence, Andrew. "Fencing enters Olympics under cloud of accusations and referee bans." The Guardian, 27. Juli 2024.
vi "Freier Geist mit festem Wohnsitz." Bayerischer Rundfunk, 30 Dezember 2011, www.br.de/fernsehen/ard-alpha/sendungen/kant-fuer-anfaenger/biografie100.html. Zugriff am 3 Oktober 2024.
vii Kant, Immanuel. Grundlegung Zur Metaphysik der Sitten. Herausgegeben Von Bernd Kraft Und Dieter Schönecker, Felix Meiner Verlag, 2016.