Über unreflektierte Ängste in KI-Debatten   Die gestohlene Kreativität

Das preisgekrönte "Foto" mit dem Titel Pseudomnesia: The Electrician, für das Boris Eldagsen mit dem Sony World Photography Award in der Kategorie "Creative" ausgezeichnet wurde. Eldagsen beschrieb das Bild als "ein eindringliches Schwarz-Weiß-Porträt zweier Frauen aus verschiedenen Generationen, das an die Bildsprache von Familienporträts aus den 1940er Jahren erinnert". Er kreierte es mit dem Bildgenerator DALL-E 2 von OpenAI.
Das preisgekrönte "Foto" mit dem Titel Pseudomnesia: The Electrician, für das Boris Eldagsen mit dem Sony World Photography Award in der Kategorie "Creative" ausgezeichnet wurde. Eldagsen beschrieb das Bild als "ein eindringliches Schwarz-Weiß-Porträt zweier Frauen aus verschiedenen Generationen, das an die Bildsprache von Familienporträts aus den 1940er Jahren erinnert". Er kreierte es mit dem Bildgenerator DALL-E 2 von OpenAI. © Boris Eldagsen

Der deutsche Fotokünstler Boris Eldagsen hat im April 2023 die Sony World Photography Awards gewonnen. Das Besondere: Er hatte sich mit einem KI-generierten Werk beworben und lehnte den Preis schließlich ab. Hier schreibt er über KI und Kreativität.

In den vergangenen zwölf Monaten habe ich über 30 Workshops geleitet, 60 Vorträge gehalten und an 20 Podiumsdiskussionen teilgenommen, die mit Künstlicher Intelligenz (KI) zu tun hatten. Immer wieder begegneten mir unreflektierte Ängste, die sich aus mangelndem Wissen und/oder unscharfen Begriffsdefinitionen speisten. „KI wird die menschliche Kreativität ersetzen“, „KI macht Künstler überflüssig“, „KI ist intelligenter als der Mensch und entwickelt Bewusstsein“. 
  Wenn ich nachfrage, was genau mit Kreativität, Intelligenz und Bewusstsein gemeint sei, herrscht Schweigen. Was für eine verpasste Chance für eine tiefgreifender Debatte! Ich habe sechs Jahre Philosophie studiert und weiß es zu schätzen, wenn sich jemand die Mühe macht, Begriffe zu definieren. Definitionen sind die beste Grundlage für Diskussionen, die auf dem Austausch von Argumenten beruhen. Ohne sie geht es meist nur um gefühlte Wahrheiten und Meinungen, mitunter eindimensionalen Unsinn, und lässt die Komplexität der Welt außer Acht. 
 
Die Begriffe, die in vielen Medien und Debatten verwendet werden, sind - philosophisch betrachtet - nicht klar definierbar, ihre Bedeutung wandelt sich. Man könnte zu jedem dieser Begriffe mehrere Semester an einer Universität studieren, ohne zu einem klaren Ergebnis zu kommen. Viele aber verwenden „Kreativität“, „Intelligenz“ und „Bewusstsein“, als wären sie eindeutig zu bestimmen. Fast jeder glaubt zu wissen, was mit „Kreativität“ gemeint ist, und befürchtet, die KI könnte sie ersetzen. 

Schauen wir genauer hin:

Was ist Kreativität? 

Wikipedia definiert sie als etwas Neues und Nützliches und bezieht sich dabei auf das Creativity Research Journal, Band 24: “Kreativität ist die Fähigkeit, etwas zu erschaffen, was neu oder originell und dabei nützlich oder brauchbar ist.“ Offen bleibt dabei, ob sich dies auf die Welt, einen Kontinent oder ein Land bezieht, auf eine Gemeinschaft oder auch nur auf die individuelle Entwicklung einer Person. Mir ist zudem ein Rätsel, warum sich kreative Werke durch einen Gebrauchswert auszeichnen sollen, zumal man ja fast allen Dingen einen Nutzen zuschreiben kann.  

In der Zusammenarbeit mit KI: Welche kreative Rolle spielt der Mensch? 

KI ist ein ideales Werkzeug für Künstler. Sie ermöglicht es dem Künstler, sich von materiellen Beschränkungen zu befreien und seiner Vorstellungskraft freien Lauf zu lassen. Die Werkstoffe, mit denen er arbeitet, sind sein Wissen und seine Erfahrung. Der kreative Prozess ist eine Zusammenarbeit zwischen Mensch und KI, die Rolle des Künstlers ist mit der eines Regisseurs vergleichbar. Der Künstler hört auf, eine einzelne Stimme zu sein, und wird stattdessen zum Dirigenten eines gigantischen Chors, bestehend aus Trainingsdaten.  

Der Künstler hört auf, eine einzelne Stimme zu sein, und wird stattdessen zum Dirigenten eines gigantischen Chors, bestehend aus Trainingsdaten.

Die Arbeit mit KI bedeutet, seine eigene Kreativität aufzugeben, glauben Kritiker. Doch sie übersehen dabei, dass der kreative Prozess aus drei Schritten besteht: Aufgabenstellung (Prompt) - Generierung - Bewertung. Je besser die Anweisung (Prompt), formuliert ist, die die Erstellung der Inhalte anstößt, desto besser werden die Ergebnisse, in meinem Fall die KI-erzeugten Bilder, sein. Diese wiederum kompetent bewerten zu können ist wichtig, um die Prompts im nächsten Schritt anzupassen und zu verbessern. Dieser Generierungsprozess kann und muss in vielen Durchläufen verfeinert werden, bis letztlich ein überzeugendes Ergebnis vorliegt. Im ersten und im dritten Schritt verbindet der Künstler seine Persönlichkeit, seine künstlerische Biografie, mit den Trainingsdaten der KI zu einem neuen Werk. 

Ist die menschliche Kreativität ersetzbar?   

Im Jahr 2023 wurden verschiedene internationale Studien veröffentlicht, die die Leistungen von ChatGPT feierten. In Kreativitätstests konkurrierte die KI mit Menschen und schnitt in vielen Fällen besser ab. Aber auf welcher Definition von Kreativität basierten diese Tests? Leider wird dies nicht kommuniziert, daher die nächste Frage: 

Welche Kreativitätstheorie kann hier weiterhelfen? 

Wenn man die Schöpfungsmythen einmal beiseitelässt, muss man leider feststellen, dass die Kreativitätstheorie in den vergangenen 150 Jahre wenig vorangekommen ist, auch neuere Schlagworte wie Design Thinking konnten leider nichts Wesentliches beitragen. Ich empfehle, sich mit den Ideen von Margaret Ann Boden (geb. 1936) zu beschäftigen. Ihre Arbeit umfasst verschiedene Felder wie Künstliche Intelligenz, Psychologie, Philosophie, Kognitions- und Computerwissenschaften.  
 
Sie schlägt eine Dreiteilung vor:  

a) kombinatorische Kreativität, eine neue Verbindung von bestehenden Strukturen oder Inhalten (z.B. Mashups, etwa Batman im Barbie-Stil),  

b) explorative Kreativität, die Erkundung der Möglichkeiten innerhalb eines vorgegebenen Spielraums oder Regelwerks (wir Menschen haben eine bestimmte Perspektive im Raum, die KI kann alle Perspektiven einnehmen, etwa unter den Stuhl, hinter und über uns schauen.)  

In den erwähnten Kreativitätsstudien wurden vor allem a) und b) getestet - und beide Formen der Kreativität sind für die KIs natürlich beherrschbar, da sie auf statistischen und mathematischen Wahrscheinlichkeiten basieren. 
Interessant für uns ist die dritte Form der Kreativität nach Boden:  

c) transformative Kreativität, die die bekannten Regeln von Inhalten oder Räumen sprengt und diese in etwas Neues verwandelt 

Ist das mit KI überhaupt möglich? Kann sich die KI von ihren Trainingsdaten befreien und den Sprung in eine andere Dimension schaffen?  

Darüber habe ich kürzlich mit Professor Björn Ommer gesprochen, dessen Team die Grundlage des Open-Source-Modells Stable Diffusion gebaut hat, eine generative KI, die digitale Bilder auf Basis von Textanweisungen erzeugt. Er ist äußerst skeptisch, dass dies überhaupt möglich ist.   
 
Es ist sinnvoll, eine neue Aufgabenteilung zwischen Mensch und Maschine in den Blick nehmen. Wie wäre es, wenn wir die KI für kombinatorische und explorative Kreativität einsetzen und uns Menschen auf transformative Kreativität konzentrieren? 

Und so, wie sich das menschliche Schachspielen durch das Training mit den unbesiegbaren Schachcomputern verbessert hat, könnte auch die menschliche Kreativität in der Zusammenarbeit mit der KI wachsen.

Und so, wie sich das menschliche Schachspielen durch das Training mit den unbesiegbaren Schachcomputern verbessert hat, könnte auch die menschliche Kreativität in der Zusammenarbeit mit der KI wachsen. Wir könnten mehr transformative Kreativität hervorbringen als bisher. Man nennt das „Augmented Creativity“, die Verbindung von virtueller und realer Welt. Daran zu arbeiten ist eine gute Alternative zu den Weltuntergangsszenarien und eine Zukunft, die ich sexy finde. 

Boris Eldagsen zur KI und Kreativität

 

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