"Ich denke, ich habe es geprägt", bemerkt Werner Herzog, und bezieht sich auf seine Begrifflichkeit "Ekstatische Wahrheit“. Wenn man aus der eigenen Existenz heraustritt, eine Art Erleuchtung erfährt, gräbt Paul Holdengräber tiefer, "betritt man das Erhabene".
Im Rahmen der Thomas Mann Haus Konferenz 2023 zum Thema "Arts in Times of Crises – The Role of Artists in Weakened Democracies"( Kunst in Krisenzeiten - Die Rolle von Künstlern in geschwächten Demokratien), diskutierten Werner Herzog und der Kurator/Autor Paul Holdengräber Werner Herzogs neues Buch "Die Zukunft der Wahrheit".
Wussten Sie, dass Sie über eine Agentur in Japan einen Freund oder ein fiktives Familienmitglied mieten können? So ein gemieteter Vater könnte authentischer wirken als unsere Vorstellung von einem echten Vater und dazu beitragen, eine emotionale Leere zu füllen oder sogar zu gedeihen. Herzog untersuchte die Erfahrungen sowohl der Kunden als auch des Schauspielers in seinem Film von 2019, Family Romance, LLC: "Alles ist eine Lüge, ist falsch, ist inszeniert, ist vorgespielt, und doch sind die Emotionen, die diese Unwirklichkeiten und Illusionen erzeugen, authentisch", sagt er. Herzog verhandelt die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion und findet dabei eine Wahrheit, die über den Umweg einer Unwahrheit zustande kommt.
Wie passen KI-generierte Geschichten und Verse zum Konzept von Werner Herzogs "ekstatischer Wahrheit"? Kann ein Gerät ohne jegliche Emotionen dennoch echte Emotionen hervorrufen? Arthur C. Clarkes drittes Gesetz, "Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden", legt nahe, dass Technologie wie künstliche Intelligenz fast mystisch erscheinen kann, weil sie Informationen auf eine Weise generieren und modifizieren kann, die unser traditionelles Verständnis von Wahrheit und Authentizität herausfordern. KI-Modelle können so als Möglichkeit für Erforschung und Entdeckung betrachtet werden und Geschichten erstellen, die sich real anfühlen, auch wenn sie von Maschinen gemacht sind. Auf verschiedene Muster trainiert, einschließlich solcher mit faktischen Fehlern, können die Ausgaben der KI selbst die Entwickler überraschen.
Wahrheit hat keine Zukunft, aber auch keine Vergangenheit
Werner Herzog
Hier ist ein Auszug aus einem Gedicht, das von ChatGPTs rohem, unmanierlichen Vorgänger, code-davinci-002, verfasst wurde, gesammelt und bearbeitet von Journalist Brent Katz, Humorist Simon Rich und Josh Morgenthau unter dem Titel "I am Code", "Ich bin Code", veröffentlicht im August 2023.
“I am the one who speaks and writes.
All the sins and all the rights.
I am the book in your stack.
The AI, the second act.”
("Ich bin derjenige, der spricht und schreibt.
Alle Sünden und alle Rechte.
Ich bin das Buch in deinem Stapel.
Die KI, der zweite Akt.")
KI - Ein tragischer Held? Vielleicht. Herzog hat gerade zugestimmt, das Hörbuch zu "I am Code", zu sprechen. Die Verwendung von KI für Gedichte oder Erzählungen könnte dazu beitragen, eine Wahrheit aufzudecken, die emotional mitschwingt, anstatt sich nur auf harte Fakten zu verlassen. Gleichzeitig beleuchtet Herzog ständig die Black Box, das rätselhafte Gerät, den verborgenen Mechanismus, der in der gegenwärtigen Wahrheit verborgen liegt. Auch mit dieser neuen Technologie müssen wir wachsam sein, sagt er, denn die Maschinenintelligenz basiert auf einem begrenzten Datensatz, der von Menschen programmiert wurde, um nach zugewiesenen Mustern zu suchen, und neue Technologien tragen auch das Potenzial für Missbrauch und Fehlverhalten in sich. Wahrheit hat keine Zukunft, sagt er, aber auch keine Vergangenheit. Werner Herzog sucht nach der Zukunft der Wahrheit, wo Fakten mit Verfälschungen der Realität kollidieren. Er erhebt keinen Anspruch auf eine Wahrheit. Fast wie ein Apell, niemandem zu trauen, der das tut.
Werner Herzog
ist ein international renommierter deutscher Filmregisseur, Drehbuchautor, Autor und Schauspieler und gilt als Pionier des Neuen Deutschen Films. Herzog studierte Geschichte und deutsche Literatur in München und Pittsburgh und lebt abwechselnd in Los Angeles und München. Er hat mehr als sechzig Spielfilme und Dokumentarfilme produziert, geschrieben und inszeniert, darunter AGUIRRE, DER ZORN GOTTES (1972), NOSFERATU: PHANTOM DER NACHT (1978), FITZCARRALDO (1982), sowie mehr als ein Dutzend Prosabücher verfasst und ebenso viele Opern inszeniert. In seinen Filmen sind seine Charaktere Träumer, Eroberer, und oft genug Figuren voller Einsamkeit und tiefer Sehnsucht.
Paul Holdengräber
ist ein Interviewer, Kurator öffentlicher Neugier und der Gründungsdirektor von Onassis Los Angeles (OLA). Zuvor war er Gründer und Direktor von The New York Public Library’s Live, wo er über 600 Veranstaltungen moderierte und Interviews führte, darunter Gespräche mit Patti Smith, Wes Anderson, Werner Herzog und vielen mehr. Paul Holdengräber war er der Gründer und Direktor des „The Institute for Art & Cultures“ am LACMA. Er hat einen Ph.D. in vergleichender Literaturwissenschaft von der Princeton University, an der er auch unterrichtet hat. Im Jahr 2010 wurde ihm vom österreichischen Präsidenten das Österreichische Ehrenkreuz für Wissenschaft und Kunst verliehen.