Ausgesprochen … gesellig  Das kann man alles so machen

Parkplatz mit vielen Autos auf einer Wiese, von oben gesehen
Ein Großparkplatz entsteht aus dem Nichts Foto (Detail): H. Blossey; © picture alliance / blickwinkel

Eines Tages findet in einem Dorf in der Provinz eine größere Veranstaltung statt. Maximilian Buddenbohm beobachtet, wie gut alles von Ehrenamtlichen organisiert ist – und stellt sich Fragen von gesellschaftlicher Tragweite.

Manchmal muss ich zu meinen Themen hingehen oder sie mir erst mühsam zusammensuchen, ich muss etwa zu Veranstaltungen gehen oder an mehreren Tagen planlos jagend durch die Stadt strolchen, ich muss vielleicht etlichen Menschen in der Innenstadt im Vorbeigehen zuhören oder mehrfach mit der U-Bahn im Kreis fahren und auf irgendetwas lauern, das ich nicht einmal genau benennen kann. Ich muss vielleicht lange nachdenken und herumgrübeln, worüber könnte ich denn in diesem Monat bloß schreiben – und manchmal wache ich auf und das Thema findet einfach so vor dem Fenster statt. Es entfaltet sich dort wie bestellt und herbeigeträumt. Etwa so wie heute.

Ich bin gerade in einem kleinen Dorf, nicht wie sonst in der Großstadt. Hier ist normalerweise nicht viel los, jedenfalls nicht, wenn man an Events oder Kultur denkt. Hier weiden Kühe, hier stehen Schweine in Ställen, hier wachsen Raps, Kartoffeln und Getreide. Hier wohnen Menschen, die zur Arbeit mit dem Auto in die nächste Stadt fahren, und die ist auch nicht gerade groß. Es gibt kein Restaurant mehr in diesem Dorf, schon lange nicht mehr. Es gibt auch keinen Imbiss, kein Café, nichts dergleichen mehr. Es gibt nicht einmal einen Laden für den täglichen Bedarf, aber immerhin noch einen Bäcker und eine Apotheke und zwei Kaugummiautomaten. Das ist besser als in anderen Dörfern, in denen es überhaupt nichts mehr gibt. Dieser Bäcker aber, ich las es neulich in der Regionalzeitung hier, er kämpft auch schon ums Überleben. Es ist alles zu knapp, es lohnt sich nicht mehr recht.

Plötzlich Autos, Stimmen, Rufen, Lachen

Vor den Fenstern ist heute aber doch etwas los, und was da alles los ist. Ich wache auf, weil dauernd Autotüren klappen. Das kommt hier als Geräusch am Morgen sonst nicht vor, hier fährt an normalen Tagen zu früher Uhrzeit etwa ein Auto pro Stunde vorbei, eher noch weniger. Jetzt höre ich verschiedene Stimmen, Rufen und Lachen, was mag das alles sein?

Auf dem Sportplatz gegenüber ist heute der Startpunkt für einen Lauf. Die halbe Marathondistanz und auch andere Varianten. Über den Tag verteilt werden verschiedene Altersgruppen losrennen und nach wie vielen Kilometern auch immer wieder ankommen, zuerst starten sehr aufgeregte Kinder im Grundschulalter. Das ist ein großes Ereignis in dieser Gegend, ein Sportfest. Zahlreiche Autos parken auf dem Acker gegenüber, auf dem sonst die Kühe weiden. Die Tiere besehen sich die seltsame Betriebsamkeit jetzt aus der Ferne, man hat sie etwas abgedrängt und neu eingezäunt. Im Laufe des Vormittages kommen immer mehr Autos an, dieses Sportfest ist in der Gegend bekannt. Ein Großparkplatz entsteht aus dem Nichts. Ehrenamtliche Helfer weisen die vielen Autos ein, sie zeigen Wege, sie erklären die Verkehrsführung und anderes, wo sind die Toiletten, wo gibt es Wasser, wo ist was. Es sind die Leute aus dem kleinen Sportverein hier, die dieses Event stemmen.

Allzu viele Helferinnen sind es nicht und alles entsteht aus diesem kleinen Dorf heraus und aus ehrenamtlichem Engagement, das ist eine Freizeitbeschäftigung.

„Das leibliche Wohl“

Es gibt später eine Live-Moderation während der Wettkämpfe, anfeuernde Lautsprecherdurchsagen verwehen über den Wiesen. Es gibt ein großes Festzelt für die Party danach, es gibt Musik. Es gibt die üblichen Versorgungsstände, sogar viele davon. Wenn bei einem Ereignis dieser Art „für das leibliche Wohl gesorgt ist“, wie es in Regionalzeitungen immer noch unweigerlich heißt, dann gibt es mindestens Bier, Pommes und Wurst, das ist der kleinste gemeinsame Nenner der deutschen Festverpflegung. Aber hier gibt es mehr, auch Flammkuchen, Steaks, Softeis, gebrannte Mandeln und anderes, hier ist es fast schon ein Volksfest. Es gibt auch eine Tombola, es gibt Hüpfburgen für die Kinder, es gibt bereitstehende Sanitäterinnen, die vor ihrem Wagen in der Sonne sitzen. Ich staune.

Ich gehe über den kleinen, nein, über den eher winzigen Sportplatz, der eigentlich nur ein Stück Wiese mit zwei tragbaren Fußballtoren darauf ist, mehr nicht, und ich staune im Laufe des Vormittages immer mehr. Denn ich sehe, und man muss es wirklich bewundern, wie gut hier alles organisiert ist. Wie souverän das veranstaltet wird, wie glatt das hier läuft. Die Leute aus dem Sportverein, man kann sie am einheitlichen Outfit erkennen, haben das so dermaßen gut im Griff, es macht Spaß, ihnen zuzusehen.

Ich gehe an zwei jungen Männern vorbei, die zu denen gehören, die den Parkplatz regeln. Sie verändern gerade die Absperrungen etwas, und der eine sieht sich um und sagt: „Ich glaube, wir sind logistisch und konzeptionell ganz gut aufgestellt.“ Es ist ein Satz wie aus einem Dokumentarfilmdrehbuch, aber er sagt ihn wirklich so. Der andere nickt, sieht sich ebenfalls grinsend um und antwortet norddeutsch zurückhaltend. „Jo. Das kann man alles so machen.“

Die organisatorischen Fähigkeiten in diesem Land

Es ist nicht so, denke ich, dass es diese organisatorischen Fähigkeiten in diesem Land nicht mehr gibt. Die Begabungen und die Kenntnisse und auch die Neigungen sind noch vorhanden. Man kann das leicht überprüfen, man kann das sehen. Hier etwa, vor diesem Fenster, jetzt gerade. Die Aufgabe sieht definitiv zu groß aus für einen eher winzigen Sportverein, und doch läuft es. Es wird einfach gemacht, und es wird gut gemacht.

Warum sind dann wir, also nicht unbedingt Sie und ich, sondern wir kollektiv, warum sind wir in der Gesamtheit in der Organisation des Landes denn bloß so schlecht geworden, und wann genau ist das passiert? Oder waren wir in Wahrheit nie besser und sind Opfer einer kollektiven geschichtlichen Verklärung, haben wir es uns nur eingebildet, dass wir einmal bemerkenswert gut organisiert waren, dass es oft als mustergültig wahrgenommen wurde?

Ich denke schon seit 2015 über dieses Thema nach. Ich kann genau datieren, wann das begann. Als damals der Hamburger Hauptbahnhof voller durchreisender Geflüchteter war, als dort Kinder auf dem nackten Boden schliefen und längere Zeit niemand vernünftig versorgt wurde, nicht einmal mit Trinkwasser oder Strom für die so wichtigen Smartphones, da habe ich zum ersten Mal gedacht: Jede Freiwillige Feuerwehr, jeder Fußballverein könnte das hier doch mit links organisieren und im Handumdrehen, wirklich über Nacht, für das Notwendigste sorgen, für einen halbwegs vernünftig geregelten Ablauf. Ich weiß, dass die das können, die sind nämlich in aller Regel super organisiert und vereinen Menschen mit erheblicher Tatkraft und Kompetenz und Organisationstalent. Und meine Stadt konnte es damals aber nicht, wie ich sah. Aber warum nicht? Das ist eine Frage abseits der Politik, falls Sie geistig gerade abdriften, da das Reizwort „Geflüchtete“ vorkam. Es geht mir um heute Organisationsfragen, nicht um Rechts-Links-Deutungen.

Die Aufgabe schien mir damals nicht unlösbar. Vielleicht war sie das in anderen Städten, das mag sein, ich bin kein Experte für das Thema, aber da, wo ich sie gesehen habe, war sie es nicht.

Wo ist der Bruch?

Ich denke seitdem oft über dieses Thema nach, auch und gerade während der Coronajahre. Also während der Jahre, in denen es offensichtlich wurde, wie viel hier schlecht organisiert ist, wie wenig gut gerüstet ist für größere Aufgaben, für Ernstfälle, für Ungewöhnliches, für, man mag es nicht einmal denken, Bewährungsproben. Ein Desasterland, so kam es vielen während der letzten drei Jahre vor. Und das ist immer noch ein Thema abseits der Politik, es ist ganz egal, wer wann welche Corona-Maßnahmen wie gefunden hat – es waren in jedem Fall zu viele davon einfach nicht gut genug organisiert. Darauf kann man sich einigen, nehme ich an, bei allen Differenzen, die wir sonst haben und über die wir uns schier endlos streiten könnten, ich weiß.

Ich hätte mir vorher vieles besser vorgestellt, ich hatte höhere Ansprüche, ich war vermutlich naiv. Ich dachte, wir könnten mehr. Also wieder nicht Sie und ich, wir beide, sondern wir alle.

Man müsste eigentlich herausfinden, wo die Grenze ist. Die Grenze zwischen diesem kleinen Sportverein auf dem Land und den immer größeren Verwaltungseinheiten. Irgendwo muss doch ein nachweisbarer Knick sein, ein Bruch. Man müsste das erkennen können, stelle ich mir vor. Man müsste doch sehen können, bis dahin etwa können wir das, bis dahin klappt alles gut und macht uns sogar Spaß, und ab hier dann auf einmal nicht mehr, ab da wird deutlich geschwächelt. Wo ist dieser Bruch?

Man müsste den finden und dann … ich weiß es auch nicht. Aber ich habe doch den Verdacht, dass Bruch und Heilung irgendwie zusammengehören. In der Medizin denkt man das so, was für unser Thema nichts beweist. Aber ein naheliegender Gedanke ist es doch.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Maximilian Buddenbohm und Susi Bumms. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.