Ausgesprochen … gesellig  Die Streichholzfrau

Foto: unscharfer Schatten einer Person an einem Zaun
Wir gehen an denen im Elend vorbei und die im Elend gehen an uns vorbei. Jeden Tag. Foto (Detail): Radu Bercan; © mautitius images / Alamy

Maximilian Buddenbohm beobachtet eine Frau in der U-Bahn. Sie verhält sich auffällig, und doch ist ihr Anblick seltsam vertraut.

Ich gehe zur U-Bahn runter. In der Station sitzt eine junge Frau allein auf einer Bank, sie könnte 17 Jahre alt oder schon Ende 20 sein, es ist nicht recht zu erkennen. Sie sieht schlecht aus, leidend, verkommen, mit seltsam verdorben wirkender Haut, ungewaschenen Haaren und ungepflegter Kleidung. Eine Drogenabhängige sicherlich, wie es viele an diesem Bahnhof und in der Gegend gibt. Sie sieht aus, als würde sie gleich weinen. Sie schlägt die Hände vors Gesicht und nimmt sie wieder weg, ihr Blick bleibt tränenlos. Und dieser Gesichtsausdruck bleibt dann unverändert, den ganzen folgenden Text hindurch, stummfilmhaft fortgeschrittene, erstarrte Verzweiflung, weit aufgerissene Augen. Keine weitere Mimik, nur immer dieser eine Ausdruck, wie eine Maske sieht es aus, eine Maske, die sie den ganzen Tag trägt, sie stellt fortwährendes Entsetzen dar. Die Frau sieht sich unruhig immer wieder um, wie eine Verfolgte, noch einmal und noch einmal sieht sie nach links und rechts, den Bahnsteig entlang. Sie krümmt sich plötzlich ruckartig, die Hände vor den Bauch haltend, wo es vielleicht schmerzt, krampft, brennt. Sie drückt ihre Ellenbogen vor dem Magen zusammen und breitet die Hände vor der Brust aus, die Finger gespreizt, es sind sicher Gesten der Not. Ihr Kopf knickt auf einmal nach unten, in einem etwas grotesk anmutenden Winkel, dann biegt sich auch der ganze Oberkörper nach vorne, eckig und schnell, eine Streichholzfrau mit Gummibandgelenken ist sie, von höheren Mächten kräftig und ruppig verbogen.

Ziellos

Sie steigt mit mir hastig in die nächste U-Bahn, in geduckter Haltung kommt sie in den Wagen. Sie sitzt kurz neben mir, Nägel kauend und leicht zitternd, einen unbeschreiblichen Horror im Blick, mit dem sie kaum etwas wahrzunehmen scheint, mich jedenfalls sicher nicht.

Abgemagerte Arme hat sie, die ganze Gestalt ist viel zu dünn, zu klapperig. Sie sitzt unruhig. Sie setzt sich dann schnell um, ohne etwas zu sehen oder andere Menschen im Wagen wahrzunehmen, ziellos bewegt sich das dürre Wesen von Platz zu Platz. Wie durchs Abteil geweht sieht die Frau dabei aus, und dann immer wieder dieses plötzliche Biegen und Rucken und Knicken des Oberkörpers und des Halses, ganz seltsame Winkel entstehen da, eine animierte Kafka-Zeichnung ist sie. Ihr Leiden sieht man überdeutlich, das Klagen hat sie aber nur im Blick, keinen Laut lässt sie hören, die ganze Zeit nicht. Die anderen Passagiere sehen sich kurz nach ihr um, schütteln die Köpfe und lesen weiter auf ihren Smartphones. Die Frau bettelt nicht, es gibt also keinen Kontakt zu ihr. Man sieht nur kurz hin, sie ist eine von vielen, eine Begleiterscheinung des öffentlichen Nahverkehrs, etwas weniger lästig als eine Fahrkartenkontrolle.

Ein großstädtisches Bild

Sie steigt beim zweiten Halt huschend aus, mit einer gewissen Beliebigkeit, irgendwo steigt sie aus, sie sieht gar nicht erst nach dem Stationsnamen, und ich sehe dann noch, wie sie drei Türen weiter gleich wieder einsteigt, in dieselbe Bahn, die sie doch gerade erst verlassen hat Wie sie sich vorsichtig erneut setzt, sich krümmt, sich schon wieder hastig umsetzt, als folge sie einer strengen Weisung, wie getrieben, gejagt und gehetzt wirkt sie. Sie sitzt, sie steht auf, sie hastet weiter, sie sitzt. Und immer so weiter, von Reihe zu Reihe, irgendwann sehe ich sie schließlich nicht mehr. Sie entflieht gebückt dem Bild, das ich Ihnen zu beschreiben versuche.

Mehr passiert nicht. Es gibt kein weiteres Vorkommnis, keine Wendung und auch keine Pointe. Ich schreibe das nur einmal auf, weil ich es dauernd sehe, und Sie vielleicht nicht. Es ist doch ein eher großstädtisches Bild, denke ich mir, eine typische Millionenstadtszene wird es sein, und Sie haben da vielleicht ganz andere Bilder bei sich, in ihrem Wohnort. Aber so geht es hier eben zu, und es wird seit einiger Zeit deutlich schlimmer. Vor noch längerer Zeit, damals irgendwann, wurde es auch einmal besser, die Drogenszene war eine Weile deutlich weniger sichtbar im Stadtbild, aber das ist mittlerweile lange her und in den letzten Jahren geht es eindeutig abwärts.

Maßnahmen

Ein Experte sagt später am Tag dieser Szene im Fernsehen, die Coronajahre seien wie ein Brandbeschleuniger für das Elend hier gewesen. Gemeint ist in seinem Beitrag das Elend, das man am Bahnhof in dieser Stadt sieht, die Drogenszene, die Alkoholszene, auch all die Opfer der Obdachlosigkeit aus verschiedenen Gründen.

Die Stadt plant Maßnahmen. Das liest man in den Medien oft in letzter Zeit, immer plant sie gerade irgendwelche Maßnahmen, und zuständige Menschen aus der Politik sehen ernst in die Kameras und erklären gut vorbereitet die Vorhaben. Kurz darauf sagen dann andere, warum diese Maßnahmen falsch seien und was sie alles besser machen würden, wenn man sie wählen würde. Die Leute aus den sozialen Berufen aber, die etwa auch die Hilfseinrichtungen am Bahnhof betreiben, sie sagen übereinstimmend, dass die Maßnahmen sämtlich eher auf Vertreibung hinauslaufen würden, nicht auf nützliche Hilfe. Die geplanten Maßnahmen würden hauptsächlich denen helfen, die das ganze Elend nicht mehr sehen wollen.

An der Methadon-Ausgabestelle, nicht weit von meiner Wohnung, hat man gerade die Zäune neben dem Vorplatz deutlich erhöht. Das ist auch eine städtische Maßnahme, nehme ich an. Es sind die Zäune an den vielen Gleisen, die zum Hauptbahnhof führen, an den Gleisen, auf die sonst Menschen wohl leicht haben stürzen können, mit mehr oder weniger Absicht.

Es stehen manchmal Menschen wie diese junge Frau aus der U-Bahn, die ich am Morgen gesehen habe, an diesen Zäunen. Sie stehen da, die Hände in die Gitter gekrallt, sie stehen da nur und warten und warten, und dann gehen sie wieder weiter, irgendwohin, wo es vermutlich auch nicht besser werden wird. Ich sehe das jeden Tag. Ich sehe es und ich sehe es nicht, das ist der Alltag in meinem Viertel. Wir gehen an denen im Elend vorbei, und die im Elend gehen an uns vorbei.

Manchmal sieht man hin, manchmal nicht.
 

„Ausgesprochen …“

In unserer Kolumnenreihe „Ausgesprochen …“ schreiben im Wechsel Maximilian Buddenbohm und Susi Bumms. Maximilian Buddenbohm berichtet in „Ausgesprochen … gesellig“ über das große Ganze, die Gesellschaft, und ihre kleinsten Einheiten: Familie, Freundschaften, Beziehungen.