Sprechstunde – die Sprachkolumne  Was unübersetzbar bleibt

Illustration: leere Gedankenblase über einem Buch
Das Eigene durch Eigenes auszudrücken, ist nahezu unleistbar © Goethe-Institut e. V./Illustration: Tobias Schrank

Übersetzen ist so viel mehr als Übertragen. Übersetzt werden muss immer auch die Weltwahrnehmung. Nora Gomringer erzählt, wie Autorin und Übersetzerin gemeinsam die Ebenen eines Textes ausloten. Es geht um Gerüche und Geräusche. Und es geht um Schmerz, der Wortsuchende an ihre Grenzen bringt.

Ganze Wände lassen sich mit Büchern füllen – und dabei Tapeten sparen – die ein paar Themen zum Inhalt haben, welche als unübersetzbar gelten. Dabei geht es oft um Formales, viel öfter aber um Inhaltliches. Lyrik gilt gemeinhin, aber vor allem bei Laien als unübersetzbar, bestimmte Erfahrungen, die wir als geschlechtliche Wesen machen, gelten als nicht übersetzbar im Sinne von: Was ein Mensch erlebt, kann ein anderer nicht im gleichen Maße empfinden, verstehen, beurteilen, da er immer aus seiner ihm eigenen Identität heraus empfinden, verstehen, beurteilen wird.

Und Identität, das ist ein Baukasten, ein Setzkasten, ein Apothekerschrank, mal eine Pinnwand, ein TikTok-Account und ein Klima, erzeugt von persönlichen Wetterlagen, selbst beobachtet durch verschiedene Lebensjahre. So wandern philosophische Konzepte, Gefühle, auch die Beschreibung soziologischer Phänomene von einer Sprache in die andere als Fremdwörter. So bleiben Fremdkonzepte gekennzeichnet durch die Aura, die ihren Signifikanten umgibt und das Signifikat als geschützte Gedankengegenstandsblase in die andere Sprachlandschaft einführt.

Der Duft älterer Damen

Mit der Übersetzerin Anne Elizabeth Rutherford, die sich meiner Texte annimmt, und mit Humor und großem Eifer meiner Sprache bei der Überführung ihrer Inhalte ins Englische behilflich ist, habe ich in den letzten Jahren besonders viele Gespräche geführt. Übersetzungen meiner verschiedenen Lyrikbände ins Vietnamesische, Spanische, Belarussische haben zum Teil wenig oder gar keine Begegnung mit den Übersetzerinnen und Übersetzern entstehen lassen, deshalb kann ich nur auf das intensive Zwiegespräch mit einer Leserin, die tief schürft, Zoom und ihre Zeit einsetzt, um mich aufzusuchen, rekurrieren und berichten: Wir haben uns sehr lange über den Duft älterer Damen in der englischsprachigen Welt ausgetauscht, weil die Zeile „riech ich nach Arnika alte Frau“ in einem meiner Gedichte besonderes Einfühlungsvermögen bedurfte und schließlich zu „am smelling of talcum powder old woman“ wurde.

Gespräche dieser Art sind eigentlich Poetiken kulturgeschichtlichen Inhaltes und würden viele Zuhörende zu Diskussion und lebhafter Überlegung anregen. Es ist ein Sprechen in Generalismen und Konventionen, Übereinkünften sprachlicher und kultureller Wahrnehmung, die ständigem Changieren unterworfen sind und dadurch die Generalismen brechen und von den Abstrakta zu unbedingten Konkreta führen. Vermeint man, das poetische Bild des Duftes einer alten Frau in einem Land als gesetzt und klar eingefangen zu haben, ist die Frage der Übertragung dieses Inhaltes in eine Zielsprache eben keine Frage der Übersetzung von Lexik, denn Arnika ist in England durchaus bekannt („arnica“), sondern eine Frage der Übersetzung von Weltwahrnehmung. Ältere Damen im Commonwealth umgeben andere Duftnoten, als Damen auf dem deutschen Land, dazu noch in dem Dorf, das ich kenne und in dem ich aufgewachsen bin und die Nuancen erschnupperte, die für immer mein Schreiben prägen.

Akustisches Fest

Treffen zwischen Autoren und ihren Übersetzern sind so legendär wie Briefwechsel dazu und Missverständnisse darum herum. Initiativen wie etwa „Versschmuggel“ des Hauses für Poesie in Berlin, paaren jedes Jahr 10 Dichter deutscher Sprache mit 10 Dichtern einer anderen Sprachgruppe und „schalten“ 10 Interlinearübersetzer dazwischen. So durfte ich mit Übersetzer Allard van Gents Hilfe, die flämische Dichterin Maud Vanhauwaert übersetzen und ihrem lyrischen Werk durch Fragen näher rücken. Immer noch eine der köstlichsten, exklusivsten Formen der Literaturvermittlung, die ich mir vorstellen kann und dazu eine, die ich als tatsächliche Fortbildungsmaßnahme für meinen Berufsstand begreife. Mit Maud Vanhauwaert habe ich lange über die Art, Tonhöhe, Intensität und den Ambitus von Schmerzensschreien kleiner Hunde diskutiert, deren Fell sich in den Reißverschlüssen von Transporttaschen verfängt, wenn ihre Besitzer diese unachtsam und zu schnell schließen. Solche Szenen zur Begriffsklärung müssen Allard van Gent mit gutem Humor an die Hand-und-Fuß-Beschreibungen einer Büffelsichtung Lieutenant John Dunbars im Film Dances with Wolves erinnert haben. Kevin Costner macht sich darin quasi zum Büffel vor den stolzen Abgesandten der Lakota Sioux. Akustisch muss unsere Besprechung ein ähnliches Fest gewesen sein. Quietschen, jaulen, jammern, knurren, winseln, quieken, schreien wurden auf Flämisch und Deutsch untersucht, um den richtigen Ton für den Text zu treffen.

Eine Fotografie, auf einer Unterlage liegend, zeigt eine Frau mit getönter Brille, eine Haarsträne verdeckt einen Teil ihres Gesichts; im Hintergrund Menschen, Strand, Meer. Foto: Nora Gomringer

Kniefall

Trotzdem bin ich sicher, dass nicht nur aufgrund meines übersetzerischen Unvermögens Wesentliches unübersetzt geblieben ist. Denn auch mit den besten Absichten und dem aufs Äußerste erweiterte (onomatopoetische) Vokabular ist mir der Schmerz des flämischen Hundes ein Rätsel und bleibt eine Herausforderung. So ist es übrigens mit allen Schmerzen, will mir scheinen. Seit einem Jahr versuche ich, den Tod meiner Mutter zu beschreiben, mir meine Erfahrung in Sprache zu überführen und selbst das: Das Eigene durch Eigenes auszudrücken, ist nahezu unleistbar. Es entstehen Bilder, die wiederum Bilder in anderen erzeugen. Für die einen ist genau das ihre Definition von Literatur, für die anderen ist diese Verschiebung von Präzision ihr Ende. Ich bleibe beim Kniefall vor den Übersetzerinnen und Übersetzern. Sie leisten, was zu wenige heute wagen, indem sie durch ständiges, unablässiges Wählen, Abwägen und Entscheiden, Eindeutigkeit entstehen lassen und für die Konsequenzen ihrer Auswahl – oft ungesehen – einstehen.

 

Sprechstunde – die Sprachkolumne

In unserer Kolumne „Sprechstunde“ widmen wir uns alle zwei Wochen der Sprache – als kulturelles und gesellschaftliches Phänomen. Wie entwickelt sich Sprache, welche Haltung haben Autor*innen zu „ihrer“ Sprache, wie prägt Sprache eine Gesellschaft? – Wechselnde Kolumnist*innen, Menschen mit beruflichem oder anderweitigem Bezug zur Sprache, verfolgen jeweils für sechs aufeinanderfolgende Ausgaben ihr persönliches Thema.

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