Erinnerungskultur  „Die Geschichte Brasiliens ist eine Geschichte des Ausblendens von Gewalt“

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Ein Interview anlässlich einer Diskussionsveranstaltung des Goethe-Instituts mit dem Literaturtheoretiker Márcio Seligmann-Silva über die Bedeutung von Kunst als Instrument der Konstruktion von Erinnerung an düstere Zeiten.

Könnten Sie für uns einen Vergleich des Umgangs mit Erinnerung in unterschiedlichen lateinamerikanischen Ländern mit diktatorischer Vergangenheit ziehen? Welche Parallelen und Unterschiede gibt es? Wie unterscheidet sich die Arbeit mit der Erinnerung hinsichtlich der Intensität in den unterschiedlichen Ländern?

Es gibt Unterschiede, und sie sind frappierend. Auffällig wird dieser unterschiedliche Umgang bei der Betrachtung Brasiliens auf der einen und Chile und Argentiniens auf der anderen Seite, wobei diese untereinander ebenfalls große Unterschiede aufweisen. Argentinien erlebte im Falklandkrieg einen sehr klaren Bruch mit der Diktatur und kann daher die Verurteilung der Folterer unter den Militärs, den ehemaligen Präsidenten der Diktaturzeit, angehen und Menschenrechte sowohl als Staatspolitik als auch als Teil eines kollektiven Gedächtnisses etablieren. Dies ist nicht nur offizielle Politik, sondern erreicht auch die Bevölkerung insgesamt, die sich für Menschenrechte engagiert. In Argentinien gibt es heute Dutzende Erinnerungsstätten. Die früheren Folterzentren wurden zu Erinnerungsstätten. Das mobilisiert Bevölkerung wie Politiker und ist Gegenstand von  Kampagnen.

In Chile ist es nicht so intensiv aber dennoch präsent. Santiago besitzt mit dem Museo de la Memoria y los Derechos Humanos eines der größten Museen über die Diktatur in ganz Lateinamerika. Das heißt, in diesen Ländern werden Menschenrechte als Teil der Staatspolitik behandelt. Hier in Brasilien gibt es eine Stigmatisierung, als seien Menschenrechte eine vergangene Sehnsucht der Linken. Es wurde ein Vorurteil konstruiert. Daher ist es so wichtig zu sehen, was in Europa geschah und in der übrigen Welt, wo die Frage der Menschenrechte über einer parteiischen Politik steht. In Brasilien haben wir diese Wende nicht vollzogen. Daher halte ich es für wichtig, Künstler und Menschen zusammenzubringen, die sich mit Erinnerung und Gewalt ganz allgemein beschäftigen, um herauszubekommen, warum es hierzulande so anders ist. Und natürlich, um daran etwas zu ändern.

KUNST KANN EIN INSTRUMENT DER EMPATHIE GEGENÜBER VERGESSENEN GESCHICHTEN SEIN


„Von der Diktatur blieb uns der Schmerz des Verlusts und der Angst und die Leere, welche die Opfer der Verfolgungen, der Gefängnisse, der Folter, der Morde, des ‚Verschwindenlassens‘, des Exils, der Verweise aus Schulen, Universitäten, Gewerkschaften und Verbänden hinterließen; die Genossen, die wahnsinnig wurden oder sich selbst töteten, nicht einmal eingerechnet. Hier kommt Kunst ins Spiel in dem Versuch, das Unsagbare, das Erhabene, das Trauma, den Schmerz auszudrücken, der in unseren Seelen lebt“, sagt die Künstlerin Fulvia Molina. „Von der Diktatur blieb uns der Schmerz des Verlusts und der Angst und die Leere, welche die Opfer der Verfolgungen, der Gefängnisse, der Folter, der Morde, des ‚Verschwindenlassens‘, des Exils, der Verweise aus Schulen, Universitäten, Gewerkschaften und Verbänden hinterließen; die Genossen, die wahnsinnig wurden oder sich selbst töteten, nicht einmal eingerechnet. Hier kommt Kunst ins Spiel in dem Versuch, das Unsagbare, das Erhabene, das Trauma, den Schmerz auszudrücken, der in unseren Seelen lebt“, sagt die Künstlerin Fulvia Molina. | Foto: Durchsichtiges Vinyl auf PETG © Fulvia Molina, 2006. Da Sie die Künstler in diesem Zusammenhang nennen: Wie kann Kunst dazu beitragen, dieses kollektive Gedächtnis wachzuhalten?

Künstler können Empathie mit den Verschwundenen, den Opfern der Diktatur, herstellen. Sie können Erzählungen schaffen, vergessene oder noch nicht geschriebene Geschichten, die noch nicht gehört werden konnten, bewahren. Und sie können Instrumente der Empathie schaffen. Das ist sehr wichtig. Im Bericht der Wahrheitskommission beispielsweise widmet sich ein Band den Toten und Verschwundenen. Das sind 400 hochinteressante Lebensgeschichten; die meisten dieser Leute waren sehr jung, Leute, die ihr Leben für ein politisches Ideal, für die Freiheit, gegeben haben und gegen die Diktatur gekämpft haben, für einen Traum, für Utopien.

Künstler können die empathischen Instrumente schaffen, um diese Geschichten zu erzählen. Sie sind Brücken, Medien, die uns einen Zugang zu dieser Vergangenheit ermöglichen. Daher gibt es in Ländern, wo eine Kultur der Menschenrechte herrscht, viel mehr Künstler, die sich mit diesen Fragen befassen. In Brasilien sind Künstler, die sich der Diktaturzeit widmen, leider selten. Ein interessantes Phänomen: Während der Diktatur haben sich viele Künstler natürlich dagegen gestellt, sich betätigt, wurden verfolgt und so weiter. Aber danach hatten wir eine lange Zeit, in der dieses Thema beiseite gedrängt wurde. Und nicht nur vonseiten der Künstler sondern der gesamten brasilianischen Gesellschaft, mit Ausnahme des Kinos, das sich in Brasilien immer wieder mit diesem Thema beschäftigte.

Kann es sein, dass dies mit einer gewissen Angst vor der eigenen Vergangenheit zu tun hat? Wir haben ja dieses Schweigen auch in Bezug auf das Erbe der Sklaverei, den Genozid an den indigenen Bevölkerungen – am liebsten erwähnt man es nicht, kehrt es unter den Teppich. Ist es womöglich ein Mechanismus, den es in der brasilianischen Gesellschaft seit jeher gibt?

Die Geschichte Brasiliens ist eine Geschichte des Ausblendens von Gewalt, des nicht Wahrnehmens der Gewalt. Es gibt die Konstruktion einer monumentalen, heroischen Geschichte, in der unsere großen Mythen den oberen Klassen gehören. Dies ist so seit dem Genozid an den Ureinwohnern, der 1500 begann, und hält bis heute an. Und seit die afrikanische Bevölkerung nach Brasilien kam, um versklavt zu werden, und bis heute herrscht eine Situation der sozioökonomischen Ungleichheit. Ein Prozess, den auch die sogenannten linken Regierungen nicht durchbrochen haben. Genau so ist es auch mit dem Umgang mit unseren Diktaturen: Wir haben keinen Platz für  Erinnerung, sowohl was die Diktatur unter Getúlio Vargas als auch in Bezug auf die letzte von 1964 bis 1985 angeht. Darin ist die brasilianische Kultur einzigartig.
 

Brasilien, von Jaime Lauriano

Im Werk „O Brasil“ (Video auf Basis von Zeitungsmaterial aus den Jahren 1964 und 1968 sowie offizieller Propaganda, die Nationalismus und gesellschaftliche Kontrolle durch Angst in der Zeit der Militarismus betonen) analysiert Lauriano den Diskurs der Militärdiktatur in Brasilien. Der Künstler untersucht Ähnlichkeiten zwischen den ersten Jahren nach Abschaffung der Sklaverei und den Jahren der Diktatur, insbesondere im Hinblick auf die beiden Epochen gemeinsame skrupellose Überhöhung nationaler Symbole. Laureano verfolgt „die in Staatsstreichen selbstverständlich gewordene perverse Wiederholung von Gewalt gegen bestimmte Bevölkerungsschichten“ im Lauf der brasilianischen Geschichte.

Die anderen lateinamerikanischen Kulturen haben diese Wende vollzogen, zu einem Nachdenken unter dem Gesichtspunkt der Menschenrechte, und eingesehen, wie wichtig es ist, sich der Gewalt zu erinnern, um sie sich nicht wiederholen zu lassen. In Brasilien begräbt man dies und vergisst, und es herrscht dieser Diskurs des „nach vorne schauen“ und „keine Revanche“. Man verwechselt Menschenrechte mit Revanchismus. Eine Erinnerungskultur konnte so nicht entstehen. Kolumbien zum Beispiel erlebt derzeit eine riesige internationale Diskussion darüber, wie man diesen Übergang von einem Bürgerkrieg, der Zehntausende Tote hinterließ, aushandelt. Bei uns haben wir nur das Memorial des Widerstands in São Paulo: 200 Quadratmeter für die vielleicht heftigste Diktatur Lateinamerikas der letzten Jahre.

Könnten Sie etwas darüber sagen, wie wichtig die Aufarbeitung dieser Traumata ist, um nicht wieder in dieselben Fehler zu verfallen?

Es ist wichtig, ein Bewusstsein für Menschenrechte zu schaffen, eine Empathie gegenüber den Armen, den Menschen der Peripherie, denn in Brasilien leben wir tagtäglich mit der Gewalt, haben sie verinnerlicht. Die Gewalt war in der Diktaturzeit institutionalisiert, teil staatlicher Politik und das hält an. Da wir keine Aufarbeitung dieser Vergangenheit betrieben haben, wird dies als selbstverständlich betrachtet: Die Polizei foltert weiter, mordet, lässt Menschen verschwinden. Und es gibt keine Mobilisierung, weder in der Politik, noch in den Medien. Ganz im Gegenteil: Politiker nutzen die Gewalt, um strengere Gesetze zu schaffen, Haftzeiten zu verlängern, und nicht, um zu zeigen, dass genau das Gegenteil geschehen müsste. Denn es sind soziale Fragen, die zu dieser Gewalt führen. Und die institutionalisierte Gewalt in der Peripherie führt zu noch mehr Gewalt. Wir befinden uns in einem Krieg. Wir müssen innehalten und nachdenken, ob es das ist, was wir für unsere Gesellschaft wollen.

Die Kunst ist in diesem Sinne imstande, Empathie zu schaffen, damit wir den Anderen sehen können, und auch, die Idee zu dekonstruieren, dass der Andere anders ist. Das gilt ebenfalls für den Umgang mit LGBT und allen ausgebeuteten und vergewaltigten Minderheiten. Unsere Gesellschaft ist extrem gewalttätig, es kommt zu zahlreichen Morden an Transvestiten, an Journalisten. Und wir haben ein wenig das Bewusstsein darüber verloren, weil wir es gewohnt sind, mit dieser Gewalt zu leben. Wir nehmen sie als gegeben hin. Die Kultur der Menschenrechte verändert unsere Sicht, so dass wir erkennen, dass es ein Skandal ist, etwas Entsetzliches, das man nicht hinnehmen darf. Wir müssen wieder lernen, zu erschrecken und etwas dagegen zu unternehmen.

HINTER DER BRASILIANISCHEN HERZLICHKEIT VERSTECKT SICH ENORME GEWALT


„Die Deutung der brasilianischen Diktatur geschieht unter völliger Straflosigkeit. Man kann sagen, dass praktisch alles aus der Diktaturzeit noch da ist, mit Ausnahme der Diktatur selbst“, betont die Künstlerin Leila Danziger unter Bezugnahme auf den Psychoanalytiker Tales Ab’saber. In ihrem Werk beschäftigt sie sich mit „der Gewalt der Information“. Über die Jahre schuf sie eine Reihe von Werken, in denen sie einen Großteil der Information aus Zeitungsseiten löscht und nur übrig lässt, was für sie vor dem Vergessen Bestand hat. Eine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des Lesens dieses Informationsmediums verbunden mit dessen Geräuschen. „Die Deutung der brasilianischen Diktatur geschieht unter völliger Straflosigkeit. Man kann sagen, dass praktisch alles aus der Diktaturzeit noch da ist, mit Ausnahme der Diktatur selbst“, betont die Künstlerin Leila Danziger unter Bezugnahme auf den Psychoanalytiker Tales Ab’saber. In ihrem Werk beschäftigt sie sich mit „der Gewalt der Information“. Über die Jahre schuf sie eine Reihe von Werken, in denen sie einen Großteil der Information aus Zeitungsseiten löscht und nur übrig lässt, was für sie vor dem Vergessen Bestand hat. Eine Auseinandersetzung mit der Tätigkeit des Lesens dieses Informationsmediums verbunden mit dessen Geräuschen. | Reihe Öffentliche Zeitungen ("Para ninguém e nada estar" #2), 2010. Stempel auf ausradierter Zeitung und Bindung, 55 x 57, 42 Seiten.
Sehen Sie eine Beziehung zwischen der derzeitigen politischen Unsicherheit im Land und dieser Tradition einer fehlenden Erinnerung?

Ich fand es erschreckend, wie gelassen sich diese Veränderungen im Land vollzogen, denn wir wissen doch, dass hinter dieser „Legalität“ ein gigantischer Ausnahmezustand steckt – die Gewalt steckt eigentlich in den juristischen Strukturen, die dies zulassen. Übrigens war auch unsere Diktatur stets darauf bedacht, dieses ganze Unrecht durch Gesetze abzusichern. Dass es verfassungskonform ist und juristische Normen beachtet werden, heißt nicht, dass es keine Gewalt ist, denn, wie schon Walter Benjamin sagte, ist das juristische System einer der Grundpfeiler der gewalttätigen Macht.

Was den Umgang mit unserer Erinnerung angeht: Selbst das bisschen Erinnerung, das wir haben, ist vom Blick einer vorurteilsbehafteten Elite geprägt. Sieht man sich den Bericht der Wahrheitskommission von 2014 an, gibt es selbst unter der Berücksichtigung all der Schwierigkeiten, dass die Militärarchive nicht geöffnet wurden, und so weiter, große Lücken. Im zweiten Kapitel, die gesamte Frage der Ureinwohner: Da wird deutlich, dass mehr als 8.000 Indigene aufgrund der damals herrschenden Gewalt umkamen. Um Straßen wie die Transamazônica zu bauen, rückte die Armee vor, mit Maschinengewehren, mit Bomben, und es kam sogar zur absichtlichen Verbreitung von Krankheiten, um die indigene Bevölkerung zu vernichten.

Das alles ist seit den 1960er Jahren dokumentiert, aber die Zahlen finden keinen Eingang in den Abschlussbericht der Kommission. Wir haben diese Tradition fortgeführt: Die Landbewohner, die Indigenen wurden nicht mitgezählt bei den Toten und Verschwundenen. Haben sie nicht das Recht, auch als Opfer zu gelten? Das spiegelt unsere soziale Gewalt, den aristokratischen Charakter der brasilianischen Gesellschaft, die sich so demokratisch, so freundlich gibt. Aber es ist eine Herzlichkeit, die Sérgio Buarque de Holanda bereits als Maskierung unermesslicher Gewalt bezeichnete.
 
Apelo, de Clara Ianni e Débora Maria da Silva "Como as coisas ausentes afetam nosso modo de nos relacionar? Quais são as relações entre visível/invisível, audível/inaudível, presente/ausente?". Essas são algumas das questões que permeiam o trabalho de Clara Ianni. Em "Apelo", a artista usa o Cemitério de Perus, em São Paulo, para falar da institucionalização da violência no Brasil. O cemitério foi criado em 1971 para receber cadáveres de vítimas da ditadura militar, em sua maioria desaparecidos, sepultados em vala clandestina comum. Alguns lotes abaixo, há hoje enterros de indigentes feitos em massa. A co-autora da obra, Débora Maria da Silva, teve seu filho assassinado em 2006, vítima das ações conduzidas por esquadrões da morte da polícia militar de São Paulo, que matou em um mês, mais de 600 pessoas. Hoje, ela lidera o movimento de mulheres que perderam seus filhos devido à violência policial e exigem investigação e justiça”.
 
Inwiefern kann das Gedenken an den Holocaust als Paradigma für die Erinnerung an andere entsetzliche Zeiträume gelten, ganz gleich wo?

Die Frage der paradigmatischen Erinnerung an die Shoah steht nicht infrage. Sie gilt für alle Genozide. Die Gedenkstätten an die Shoah, die Idee, den Verschwundenen Namen zu geben, die Orte der Konzentrationslager zu Gedenkstätten zu machen, die Menschen besuchen können, die gesamte Topografie des Terrors, wie sich eine Ausstellung in Berlin nennt, wurde in Lateinamerika in die Praxis umgesetzt.

Der Zweite Weltkrieg stellt gewissermaßen einen Wendepunkt dar: Ein Diskurs, den es schon gab, der sich aber von da an tatsächlich internationalisiert, einschließlich des Konzepts des Genozids, die Nürnberger Prozesse, der Eichmannprozess in Israel, die Schaffung internationaler Gerichtshöfe. All das trug bei zur Schaffung eines internationalen Bewusstseins um Menschenrechte. Es gibt eine Beziehung zwischen dem juristischen Kampf und der Suche nach Wahrheit sowie der Erinnerungsarbeit. Ein Netzwerk zu schaffen, an dem auch Künstler beteiligt sind, das am Gedächtnis einer Gesellschaft arbeitet und jenen eine Stimme gibt, die gestorben sind, ohne Spuren zu hinterlassen und ihre Geschichte erzählen zu können, ist äußerst wichtig.

Von Walter Benjamin sagen Sie, er werde in Lateinamerika mehr noch als in Deutschland als politischer Autor verehrt.

Walter Benjamin sieht die Geschichte als Katastrophe. Er sieht in der Arbeit des Historikers, des Wissenschaftlers und auch des Künstlers ein Zusammentragen von Ruinen, Hinterlassenschaften der Geschichte. Einer Neubewertung von allem. Er schuf die Idee eines Suchens nach nicht verwirklichten Träumen. Es gibt eine Reihe von Ideen und Metaphern, die er entwickelte und die in Lateinamerika äußerst lebendig sind. In der Tat haben wir in Lateinamerika einen weitaus politischeren Benjamin als in den USA oder in Deutschland, wo er viel stärker als Theoretiker der Ästhetik funktioniert, womöglich im allertraditionellsten Sinn der Ästhetik. Und für Benjamin war die Theorie der Ästhetik eminent politisch. Das wird in Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit deutlich.

Er beginnt damit, von einer ästhetischen Theorie auf der Höhe der politischen Erfordernisse seiner Zeit zu sprechen, die vom Faschismus diktiert wurden. Heutzutage leben wir unsere eigenen Faschismen, erleben gar eine Zeit wesentlich universellerer Faschismen als damals, diese ganze Frage der Fundamentalismen: Nicht nur der Islamische Staat ist fundamentalistisch. Es gibt einen westlichen Fundamentalismus, der genau diesen Dialog mit dem Andersartigen nicht zulässt, das Andere stereotypisch reduziert und genau dazu neigt, Politiken des Genozids, der Gewalt, der Kriege zu wiederholen. Insofern ist Benjamin ein sehr aktueller Autor, um kritisch über faschistisches Denken zu reflektieren.
 
Márcio Seligmann-Silva ist Professor für Literaturtheorie und Komparatistik an der UNICAMP. Er studierte Geschichte an der PUC-São Paulo, ist Master in Literaturwissenschaft (Deutsche Sprache und Literatur) der Universität São Paulo, promovierte in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin und war als Postdoktorand am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung der Freien Universität Berlin sowie an der Universität Yale tätig. Er schrieb unter anderem Ler o Livro do Mundo. Walter Benjamin: Romantismo e crítica poética (Dt.: Das Buch der Welt lesen. Walter Benjamin: Romantik und poetische Kritik) und O Local da Diferença. Ensaios sobre memória, arte, literatura e tradução (Dt.: Der Ort des Unterschieds. Essays über Erinnerung, Kunst, Literatur und Übersetzung) und ist unter anderem Herausgeber von História, Memória, Literatura: o Testemunho na Era das Catástrofes (Dt.: Geschichte, Erinnerung und Literatur: Zeugenschaft im Zeitalter der Katastrophen). Als Gastprofessor war er an Universitäten in Brasilien, Argentinien, Deutschland und Mexiko tätig.

An den Podien über „Kunst und Trauma: Erinnerung an die Militärdiktaturen in Lateinamerika“ beteiligten sich die folgenden Künstler und Wissenschaftler: Márcio Seligmann-Silva, Horst Hoheisel, Andreas Knitz, Fulvia Molina, Jaime Lauriano, Maurice Politi, Rodrigo Yanes, Marcelo Brodsky, Leila Danziger und Clara Ianni.