Wagner Moura  „Bürger haben das Recht zum Widerstand”

Marighella. Brasil, 2019. Regie: Wagner Moura. Berlinale Wettbewerb. Im Bild: Seu Jorge. © O2 Filmes
Marighella. Brasil, 2019. Regie: Wagner Moura. Berlinale Wettbewerb. Im Bild: Seu Jorge. © O2 Filmes

Nach der Premiere seiner ersten Regiearbeit „Marighella“ auf der Berlinale erzählt Wagner Moura, wie er zu seinem Thema fand, spricht über Widerstand in autoritären Regimes und die Schwierigkeiten, sein Film im Brasilien von heute in die Kinos zu bringen.

Mit mehr als zweieinhalb Stunden Länge beschäftigt sich Marighella mit den letzten Jahren des von der Militärdiktatur in Brasilien getöteten Schriftstellers, Politikers und Aktivisten Carlos Marighella. Schwerpunkt ist die Aktivität des Protagonisten in der „Nationalen Befreiungsaktion“ ANL, eine der im bewaffneten Kampf gegen das Regime engagierten Gruppen. Der Film ist als fiktionaler Actionfilm angelegt, mit einer Kameraführung nah an den Protagonisten, oft Handkamera, schnellen Einstellungen und Schnitten. „Ich will nicht, dass der Film nach Vergangenheit klingt. Ich will, dass die Leute ihn als etwas empfinden, das heute ist“, sagt der Regisseur. Auf einer Pressekonferenz mit Journalisten aus verschiedenen Ländern, sprach Wagner Moura über seinen Film.

Wie sind sie auf das Thema ihrer ersten Regiearbeit gekommen?

Die Marighella-Biografie von Carlos Magalhães war gerade erschienen. Ich war immer schon sehr fasziniert nicht nur von Marighella selbst, sondern von den Geschichten des Widerstands in Brasilien: die Malês, Canudos, Demonstrationen gegen den Staat, Diktaturen und undemokratische Regimes. Aber vor allem interessiert mich der Widerstand gegen die Diktatur nach 1964, weil sie mir zeitlich sehr nah ist. Ich bin 1976 geboren. Doch meine Generation ist ziemlich anders als die, die damals gegen das Regime kämpfte. Ich wuchs in einer ziemlich entfremdeten Generation auf. Diese Generation, die im Moment in Brasilien auf die Straße geht, ist viel näher an der von 1964 als meine.

Als das Projekt begann, wussten Sie da schon, dass Jair Bolsonaro einmal Präsident von Brasilien würde?

Nein. Wir begannen 2012 und filmten 2017 unter der Regierung Temer. Damals konnte sich noch niemand vorstellen, dass Bolsonaro einmal Präsident von Brasilien würde. Ich will nicht, dass dieser Film als eine Antwort auf eine bestimmte Regierung verstanden wird. Er ist keine Antwort auf Bolsonaro, vielleicht aber eines der erste Kulturprodukte, das sich offen gegen das stellt, wofür Bolsonaro steht. Bolsonaro hat ein Video gegen den Film gedreht, noch bevor er Präsident wurde, in dem er sagte, dass es unerträglich sei, einen Film über diesen „Terroristen“ zu machen. Aber der Film muss mehr sein als das.

Wie geht der Film mit der Adaptation des Buches von Carlos Magalhães um?

Das Drehbuch wurde von Felipe Braga geschrieben mit meiner Hilfe. Uns war immer klar, dass der Film als ein Spielfilm funktionieren müsse, denn es gibt schon viele Dokumentarfilme zu Marighella. Daher griffen wir auf filmische Mittel zurück: Es gibt im Film Situationen und Personen, die in Wirklichkeit nicht existiert haben, die Seele des Films aber ist geprägt von dem, was wir recherchiert haben. Wir haben das Buch wirklich ernst genommen, haben uns sehr damit beschäftigt, was 1964 war, haben ehemalige Guerilleros und Darsteller miteinander ins Gespräch gebracht. Beim Filmen spürten wir, dass wir gut vorbereitet waren, um über das Thema zu sprechen, das ja recht heikel ist. Viele Figuren sind beispielsweise eine Fusion aus mehreren realen Personen. Im Film sehen wir zehn Leute, aber es waren Hunderte Guerilleros. Einige Protagonisten basieren wiederum auf realen Personen. Wir haben uns viele Freiheiten herausgenommen, aber auf einer soliden Basis. Natürlich erwarte ich, von der brasilianischen Rechten kritisiert zu werden, ich erwarte aber genauso Kritik durch Personen der Linken, die in den Film gehen und sagen, dass er nicht genau das zeigt, was geschehen ist.
Der Regisseur Wagner Moura. Foto: Pressebild Der Regisseur Wagner Moura. | Foto: Pressebild

„Faschistische Regimes beginnen immer mit semantischen Fragen“

Nimmt der Film eine politische Haltung ein?

Es ist ein Film über Erzählungen. Genau deswegen wird die Erzählung dieses Films in Brasilien auf viele Probleme stoßen. Wenn der Präsident des brasilianischen Obersten Bundesgerichts sagt, 1964 sei kein Putsch gewesen, sondern eine „Bewegung“, ist dies ein erster Schritt. Eine semantische Verschiebung. Wenn Sie das Aufkommen aller faschistischen Regimes der Geschichte betrachten, beginnen sie stets mit semantischen Fragen. Es geht um Worte und darum, was sie bedeuten. Dieser Film ist hier, um zu sagen, dass die Diktatur furchtbar war und weder cool noch vernünftig. Deswegen glaube ich, dass dieser Film von vielen Leuten gut aufgenommen werden wird, die dieses Narrativ verteidigen wollen, und von Leuten gehasst werden wird, die dieses Narrativ ändern wollen. Ich weiß, dass in Brasilien Filme in Umlauf kommen, die „die Wahrheit über die Diktatur, die Wahrheit über 1964“ erzählen wollen. Wir leben in einem Moment, in dem alles auf Fake-News basiert. Das macht mir Sorge. Die Wahrheit wie wir sie kannten, gibt es nicht mehr. Sie interessiert nicht mehr. Das ist eines der großen Themen des Films: die Kommunikationsschlacht.

Welche Erzählung wollen Sie mit dem Film dagegensetzen?

Ganz einfach: Widerstand ist wichtig in der Geschichte der Welt. Die Bürger haben das Recht, und genau genommen auch die Pflicht, zum Widerstand gegen Diktaturen, gegen brutale Regimes oder einen Staat, der sie nicht achtet. Der Film ist da um zu sagen, dass wir vor einigen Jahren eine Diktatur hatten. Und dass das nicht gut war, sondern schlecht. Sie missachtete die grundlegendsten Menschenrechte der brasilianischen Bürger. Und es gab Leute, die sich entschlossen, etwas dagegen zu tun, obwohl sie damit ihr Leben in Gefahr brachten. Man kann darüber streiten, ob der bewaffnete Kampf gut oder schlecht war. Das stört mich nicht. Was sie gemacht haben, war Widerstand zu leisten. Sie haben eine Form gefunden, etwas gegen das zu tun, was passierte. In Situationen wie diesen gibt es Leute, die sich verstecken, und solche, die Gesicht zeigen und sagen das, woran sie glauben. Vor denen habe ich großen Respekt.
Marighella. Brasil, 2019. Regie: Wagner Moura. Im Bild: Bruno Gagliasso. Berlinale Wettbewerb. © O2 Filmes​ Marighella. Brasil, 2019. Regie: Wagner Moura. Im Bild: Bruno Gagliasso. Berlinale Wettbewerb. | © O2 Filmes

„Wir wollten das Ekelgefühl nicht lindern“

Warum haben Sie sich dafür entschieden, Folterszenen zu zeigen?

Ich hatte Angst, in das Klischee der Filme über die Diktatur zu verfallen. Deswegen gibt es nur eine einzige solche Szene in dem Film. Sie ist da, weil es sie gegeben hat. Das ist die Wahrheit. Wir konnten nicht anders. Die Szene ist drei bis vier Minuten lang, eine einzige Einstellung. Wir wollten das Ekelgefühl nicht lindern. Folter war offiziell anerkannt als Verhörmethode.

Welche Rezeption erwarten sie für den Film in Brasilien?

Ich kann mir jede Art von Reaktion vorstellen. Es steht sehr schlecht um unser Land. Ich kann mir vorstellen, dass Leute im Kino mit Gegenständen auf die Leinwand werfen. Ich stelle mich auf körperliche Angriffe ein. Ich stelle mich auf alles ein. Ganz ehrlich, ich bin darauf vorbereitet. Ich will, dass der Film so schnell wie möglich in Brasilien läuft. Und das ist das Problem: Unsere Verleiher haben noch kein genaues Datum. Es wird recht schwierig werden. Ich glaube, in Berlin zu sein, auf einem so großen Festival, und zu erleben, wie die internationale Gemeinschaft den Film sieht, wird es vielleicht erleichtern, dass er auch in Brasilien herauskommt. Sie sagen im Moment, es sei besser zu warten. Natürlich haben sie Angst vor der Regierung. Ich kann sie dafür nicht verurteilen. Aber wenn ich Verleiher wäre, würde ich ihn nächste Woche schon bringen.