“O último azul” (The Blue Trail) vom brasilianischen Regisseur Gabriel Mascaro läuft im Wettbewerb der Berlinale mit einer dystopischen Geschichte über die Lebensaussichten im Zuge des Älterwerdens.
Tereza (Denise Weinberg), 77 Jahre alt, lebt und arbeitet in einer Industriestadt in Amazonien. Eines Tages erhält sie die offizielle Aufforderung der Regierung, in eine Altenwohnanlage zu ziehen. Die Begründung für das Regierungsprogramm ist, die Kinder von den Alten zu entlasten mit dem Ziel, noch mehr arbeiten und produzieren zu können. Doch Tereza ist nicht bereit, ihr Leben aufzugeben, und will sich noch einen Wunsch erfüllen: einmal mit dem Flugzeug fliegen. Um sich den Wunsch zu erfüllen, macht sie sich auf die Suche nach einer anderen Zukunft. Erstklassig besetzt, mit einem wohlkonstruierten Drehbuch und präzise geschnitten, lädt der Film die Zuschauenden ein zu einer fantastischen Utopie.Wie kam es zu dem Gedanken, einen Film über eine fast 80-jährige Frau zu drehen?
Ich bin mit dem Älterwerden groß geworden in einem Haus voller Leute, meinen Eltern, zwei Großmüttern und meinem Großvater. Es wurde sich immer gemeinsam um die alten Leute gekümmert. Als mein Großvater starb, fing meine Großmutter mit 80 Jahren kurioserweise zu malen an. Es war interessant, sie in diesem Moment des Wiederaufblühens zu beobachten. Alle dachten, sie würde in Depression verfallen, aber sie fing an, etwas ganz anderes zu tun. Sie entwickelte neue Wünsche, ein neues Sein und versuchte ein neues Leben mit anderer Bedeutung, einem anderen Horizont. Das hat mich sehr bewegt und war der Anstoß zur Recherche und dem Wunsch, diesen Film zu machen. Ich fragte mich, wie ich den betagten Körper in unserer Gesellschaft politisch lesen und denken könne.
Eine der Schlüsselfragen des Films ist der Neoliberalismus mit seinem Fokus auf Produktivität und die Kontrolle der eigenen Wünsche. Sie schaffen eine Figur, die sich dieser Dynamik entgegenstellt. Was genau steht auf dem Spiel?
Als ich anfing, das Drehbuch zu schreiben, kam die Pandemie. Es kam zu Debatten über Produktivität, also wahlweise die Wirtschaft anzuhalten, um zu verhindern, dass noch mehr Alte sterben. Der Druck war groß, die Wirtschaft nicht anzuhalten. Der betagte Körper wurde zum Problem für die Ökonomie, aber das Problem geht uns alle an, weil wir alle betagte Verwandte haben und irgendwann selbst dieser Körper sind. Da kam mir die Idee, einen Film zu machen mit dystopischen Elementen: ein populistisches, auf Wirtschaftswachstum ausgerichtetes Brasilien, in dem im Namen der Produktivität ein Regierungsprogramm lanciert wird, um Alte zum Wohl der Produktion und für den wirtschaftlichen Aufschwung zu isolieren. Und dann kommt eine Frau in ihren Siebzigern, die auf ihre Weise den Status Quo dessen infrage stellt, wie der Staat sich ihr Ende vorstellt, als angeblicher Ruhestand und Genuss der letzten Jahre.

„O último azul / The Blue Trail“. Brasilien, Mexiko, Chile, Niederlande, 2025. Regie: Gabriel Mascaro. Im Bild: Rodrigo Santoro, Denise Weinberg. Berlinale Wettbewerb. | © Guillermo Garza / Desvia
Der Film gibt der Protagonistin auch eine mögliche Sexualität zurück …
Es ist vor allem ein Film über einen begehrenden Körper. Dieser Gedanke ist in allen meinen Filmen seit Boi neon / Neon Bull (2015) präsent. Die Herausforderung war, diesen betagten Körper zu denken. Es gibt eine Szene, in der Rodrigo Santoro ihr Gesicht in die Hände nimmt, und man denkt, jetzt kommt es zum Kuss. Aber es ist nicht der junge Körper, der sie verführt, sondern der von Roberta (Miriam Socarrás), einer noch älteren Bootsführerin. In ihr findet sie ihren Halt, Sicherheit, versucht sich in einem neuen Leben und hat eine psychodelische Erfahrung. Der Film spielt sehr frei mit diesen Erfahrungen, und es ist der betagte Körper, in dem sie Aufnahme findet.
Trotz der äußeren dystopischen Realität ist da eine sehr große Lebenskraft und eine innere Utopie der Protagonistin. Ist der Film dieser Ort der Utopie?
Wenn es einen Ort zum Träumen von möglichen Welten gibt, dann das Kino. Räume des Widerstands zu schaffen, diesen Körper zu sehen, der angesichts der Gegenwart unter Spannung gerät, ist etwas, das mich sehr antreibt.
Wieso situieren Sie diese Geschichte in Amazonien?
Die Figur brauchte einige Situationen der Isolation, um in sehr einzigartige Erfahrungen einzutauchen. Ein road movie im Auto oder im Lastwagen wäre nicht die geeignete Form dafür. Also haben wir uns für das Boot entschieden. Ich kannte Amazonien schon. Nach meiner Ausbildung habe ich Kurse in audiovisueller Praxis in indigenen Gemeinschaften gegeben. Mit dieser Erfahrung hatte ich schon eine Vorstellung von Amazonien, und so wurde dies schließlich der ideale Ort, um diese Geschichte zu erzählen.
Wir haben ein bisschen mit den Legenden und der Kultur Amazoniens gespielt. Im Film gibt es eine Fabrik, in der Krokodilfleisch verarbeitet wird, eine Popkultur, die sich die Kultur von Tieren in Form von Wettkämpfen von Kampffischen aneignet, auf die Leute alles, was sie haben und nicht haben setzen. Auch die Beat-Kultur spielt eine Rolle. Die Musik ist fast eine eigene Figur, die zum Tanzen einlädt. Es ist ein Film, der von Anfang an die Hand ausstreckt und sagt: Wollen wir zusammen tanzen?