Konstruktion des Anderen  „Brasilien ist immer noch vom Rassismus durchdrungen“

Eudicella trilineata - Escarabajo
Eudicella trilineata - Escarabajo © Erika Torres, 2019

Welchen Einfluss hatten die Reiseberichte von europäischen Naturforschen des 19. Jahrhunderts auf die Herausbildung von rassistischen Stereotypen? Ein Interview mit dem brasilianischen Anthropologen Renato da Silveira.

Herr da Silveira, beim Umgang mit dem Thema Rassismus betonen Sie, dass rassistische Positionen auch heute noch unter dem Einfluss eines „wissenschaftlichen Rassismus“ stünden. Inwiefern berühren rassistische wissenschaftliche Theorien rassistische Einstellungen heute?
 
Diskriminierende Einstellungen gibt es in allen Gesellschaften. Es gibt zwei interessante Texte, einer von Claude Lévi-Strauss mit dem Titel Rasse und Geschichte und ein anderer von Xavier Yvanoff mit dem Titel Anthropologie des Rassismus: Essay über die Genese der rassistischen Mythen. Sie zeigen, wie diese Disposition zur Geringschätzung des Anderen etwas ist, das es seit urdenklichen Zeiten gibt. Die oralen Traditionen, Mythen, Legenden, Predigten, Reiseberichte und die Literatur aller Völker erzählen von Misstrauen und von körperlicher wie moralischer Abwertung des Anderen.

Der Andere wird regelmäßig mit Unehrlichkeit, Mörderinstinkt, politischer Tyrannei, Gestank, abstoßenden Krankheiten und Deformationen in Verbindung gebracht. Die Religion des Anderen ist stets Aberglaube, Teufelskult, seine Priester sind Scharlatane. Diese Anschuldigungen gingen von einer Generation auf die andere über, sogar mit Geschichten über Menschen ohne Kopf, Menschen mit dem Gesicht auf dem Bauch oder riesigen Füßen. Zusammenfassend kann man sagen, dass es so, wie wir uns vom Anderen, dem Unterschiedlichen angezogen fühlen, es auch zum Menschsein gehört, von ihm abgestoßen zu sein. Je nach den jeweiligen Umständen kommt die eine oder andere Haltung zum Vorschein.

Der „wissenschaftliche" Rassismus entsteht in einer spezifischen Epoche, zu Zeiten der territorialen und wirtschaftlichen Expansion des Westens mit dem Aufkommen der industriellen Revolution Ende des 18. Jahrhunderts. In diesem Moment trat die Wissenschaft an die Stelle der Kirche als Hüter der Wahrheit. Die Wissenschaft formulierte die Theorie einer Überlegenheit der weißen Hautfarbe über die anderen in Verbindung mit einer zivilisatorischen Mission des Westens gegenüber der Welt. Die meisten dieser Theorien wurden vom Anfang des 19. Jahrhunderts an diskreditiert, als die Soziologie und die Anthropologie ihr Profil schärften. Aber wir dürfen nicht darüber hinwegsehen, dass einige dieser Doktrinen bis heute wirksam sind und durch die Massenkultur weit gestreut wurden. Der Hollywoodfilm beispielsweise hat viel zur Verbreitung der aus diesen Doktrinen hervorgegangenen Paradigmen und Stereotypen beigetragen. Bis vor nicht langer Zeit, in den 1960er- und 1970er-Jahren, war das Kino noch immer ein großer Förderer von Stereotypen.
 
Welchen Anteil haben die Naturforscher und Expeditionsreisenden mit ihren Beschreibungen der eingeborenen und versklavten Bevölkerungen der unterschiedlichen Kolonien des 18. und 19. Jahrhunderts am Entstehen des wissenschaftliche Rassismus? Haben sie zu seiner Entwicklung beigetragen?
 
Ja und nein. Viele haben diesen Theorien widersprochen, die Schriften von anderen wurden verfälscht. David Livingstone zum Beispiel war ein britischer Missionar des 19. Jahrhunderts, der zur Missionierung nach Südafrika geschickt wurde. Dort gab er die Mission auf und wurde einer der ersten Europäer, der Afrika erforschte. Er schrieb viele sehr wichtige Bücher, in denen er eine realistischere und verständigere Darstellung dieser Gesellschaften und Umgebungen leistete. Zum Beispiel schätzte er die afrikanischen Heiler, die europäische Mediziner als Abergläubige verachteten, und beschrieb sie objektiv. Die Araber, die von einer Kampfliteratur so verdammt wurden, wurden mit viel mehr Eigenschaften beschrieben. Er beschreibt ein sehr harmonisches Leben in den afrikanischen Dörfern.

Charles Letourneau war auch ein wichtiger Anthropologe, der Livingstones Arbeiten benutzte, um zu behaupten, Afrikaner dächten „an nichts außer den Bauch“. Tatsächlich beschreibt Livingstone in einigen Abschnitten die Rinderseuche, die Herden vernichtete, sowie schreckliche Dürren in manchen Regionen Afrikas. Da konnten die Bevölkerungen an nichts anderes mehr denken, als daran, zu essen. Diese Art von Verfälschungen gab es. Doch im Allgemeinen hatten die Forschungsreisenden und auch die Anthropologen eher die Rolle, den Weg für die ihnen folgenden Ausbeuter zu ebnen. Livingstone beschrieb detailliert den Lauf der Flüsse, die fruchtbarsten Regionen, zeigte den Kolonisatoren die Handelsketten und die Kultur der Menschen.
 
Alexander von Humboldt, der zwischen 1799 und 1805 in Süd- und Mittelamerika war, erklärte, „auch jeder unerfreulichen Annahme von höheren und niederen Menschenrassen“ zu widerstreben, als er postulierte: „es gibt keine edleren Volksstämme“. Hat diese Art zu denken die damals zukünftigen Anthropologen beeinflusst in ihrer Ablehnung des wissenschaftlichen Rassismus?
 
Es gab einen langsamen Übergang von der Arbeit der Naturforscher des 18. zu den Anthropologen des 19. Jahrhunderts, und die Anthropologie begann auf der Grundlage des wissenschaftlichen Rassismus. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es eine Art Revolution der Anthropologie mit dem in den Vereinigten Staaten lebenden Deutschen Franz Boas und dem Polen Bronislaw Malinowski, der in England lebte. Sie führten die sogenannte teilnehmende Beobachtung in ihre Forschungen ein und den Gedanken, dass man nichts über ein Volk sagen kann, ohne die Umstände der jeweiligen Gruppe zu betrachten. Dass man den Standpunkt der Eingeborenen respektieren sowie die lokale Sprache zu lernen habe.

Davor schwadronierten die „Sesselanthropologen“ über Gott und die Welt, ohne das Haus zu verlassen. Es gab Forscher wie James George Frazer, einer der Gründer der britischen Anthropologie, der Sitten und Gebräuche sammelte wie Schmetterlinge und Insekten in Schubladen der alten Museen. Seit Boas und Malinowski herrscht der Gedanke vor, dass du, wenn du nicht eine Zeitlang an dem Ort gelebt hast, die Sprache der Leute nicht sprichst, nicht ihre Mentalität und ihre Sitten, ihre religiösen Praktiken detailliert kennst, nichts Wissenschaftliches über das Volk sagen kannst. Mit ihnen kam diese Idee der Berücksichtigung der Zusammenhänge und der Geschichte.
 
Die Betrachtungen Humboldts über die Kenntnisse der präkolumbianischen Völker der Anden und Mexikos dienten dem Naturforscher Maximilian Alexander Philipp zu Wied-Neuwied dazu, die Indigenen Brasiliens, darunter „Botokuden” und Tupis, als primitiv zu bezeichnen, deren kulturelle und moralische Äußerungen sehr nahe am Tier seien.
 
Solche Vergleiche sind heute komplett diskreditiert. Die heutige Anthropologie betrachtet Kultur als eine Gesamtheit. Und diese Gesamtheit ist in eine Umwelt eingebunden, die bestimmte Dinge begünstigt oder benachteiligt. Zum Beispiel steht der Eskimo, was das Überleben im Eis, ohne Vegetation oder fruchtbaren Boden angeht, ganz oben, über allen. Beim Überleben im Wald übertrifft niemand die Indigenen. Heute wissen wir, dass 70 Prozent der modernen Medikamente aus der traditionellen Medizin dieser Völker stammen. Bei Kontakt der Indigenen mit den ersten versklavten Völkern aus Angola in Brasilien wurden viele Kenntnisse über Pflanzen weitergegeben. Die „Angoleiros“ in Bahia haben bis heute für alles einen Namen, selbst das niederste Gestrüpp hat dort einen Nutzen.
 
Kann man in Brasilien in den Institutionen und in der Bevölkerung heute noch Erbstücke des wissenschaftlichen Rassismus des 19. Jahrhunderts ausmachen?

 
Der Rassismus äußert sich in der Bevölkerung auf vielfältige Weise, angefangen beim Vokabular, wie etwa darin, die Haare von Schwarzen als „schlecht“ zu bezeichnen. Und in jüngerer Zeit entstand in Brasilien eine weitere Art von Diskriminierung, die sich gegen die Politik der sozialen Inklusion wendet. Es gab viele Äußerungen in sozialen Netzen von Leuten, die nicht neben einer schwarzen oder offensichtlich armen Person im Flugzeug sitzen wollten. Wir erleben im Alltag die Entweihung von Kultstätten des Candomblé, ganz zu schweigen vom Handeln der Polizei gegen die Bevölkerung in den Randbezirken der Städte. Brasilien ist immer noch vom Rassismus durchdrungen.
 
Renato da Silveira ist bildender Künstler und promovierte an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Frankreich über den Candomblé in Bahia. 

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