Ist das Internet ein Spiegelbild des politischen und sozialen Verfalls, den viele Länder in Lateinamerika erleben? Oder ist es eher ein Bollwerk der Freiheit und der Kreativität und Ausdruckskraft der hier lebenden Menschen? Ein Gespräch mit Germán Rey, Experte für Medien, Kommunikation und Kultur.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts haben wir geglaubt, das Internet würde uns freier machen. Was halten Sie heute von dieser Idee?Ich denke, dass die Idee von Freiheit genauso faszinierend und aktuell wie komplex und gefährdet ist. Sobald wir darüber sprechen, zeigen sich Konflikte und Beschränkungen. Das Internet hat die Möglichkeiten der Meinungsäußerung und des Wissenstransfers erweitert; es bietet Raum für nie dagewesene netzartige Verflechtungen und hat einige Gegebenheiten, einander zu begegnen und sich zu informieren, auf radikale Weise verändert. Es hat neue Formen geschaffen wie die Plattformen, die sozialen Netzwerke und Apps; es hat das bisherige mediale Ökosystem auf den Kopf gestellt; es hat die Speichermöglichkeiten erweitert; es ist zu einem Teil des Alltags geworden, und es hat die gesellschaftliche Bedeutung von Vertrauen und Glaubwürdigkeit für sich eingefordert. Roger Chartier schreibt über das Lesen am Bildschirm: „Die digitale Revolution unserer Gegenwart verändert alles gleichzeitig: die Schreibutensilien, die Reproduktions- und Verbreitungstechnik und die Arten des Lesens. Eine solche Gleichzeitigkeit hat es in der Menschheitsgeschichte noch nicht gegeben.“
Sehen wir uns einmal das lateinamerikanische Spektrum an. Was ist das Internet und was die Digitalisierung in der Region? Und in welchem Maße sind sie ein Raum der Freiheit?
In Lateinamerika ist es dem Internet nicht gelungen, Nachbildungen der tiefwurzelnden Gegebenheiten des Kontinents zu vermeiden: Ungleichheit, Diversität, Schwachstellen der Demokratie, Armut. All das zeigt sich in der digitalen Kluft, die immer noch besteht und die in einigen Ländern kleiner geworden ist, wobei sich das Internet schneller in den Städten verbreitet hat als auf dem Land und sich das Digitale auf komplexe Weise an das politische Leben angepasst hat, was Möglichkeiten bietet, aber auch Probleme verstärkt: die Kampflust, den Verzicht auf Argumente, die Vernachlässigung des Abwägens, die Polarisierung.
Und was ist der positive Effekt?
Auf der anderen Seite zeigt sich die unglaubliche Kreativität der Gesellschaft, sich die Technologien anzueignen, die Verbindung der neuen digitalen Geräte mit Straßendemonstrationen, die wunderbare Artikulation zwischen der Informalität und dem, was Sheila Jasanoff die „Technologien der Bescheidenheit“ nennt. Dabei bezieht sie sich auf junge Menschen, die in der Lage sind, die neuen Geräte und deren Sprache in ihr Leben zu integrieren, auf den Einzug von Kunst und Kultur ins digitale Ökosystem und die gemeinschaftlichen Zwecke, die die Menschen in einigen Fällen in den Innovationen gefunden haben, um Schwierigkeiten zu überwinden.
Was ist der Zusammenhang zwischen Digitalisierung und größerer Freiheit?
Die Digitalisierung hat nicht nur zu einer größeren Freiheit beigetragen, sondern auch zu deren Absicherung. Und zwar auf unterschiedlichen Wegen, durch den Ansporn zur freien Meinungsäußerung der Sichtbaren, vor allem aber der Unsichtbaren, durch eine Erweiterung der Mechanismen zur gesellschaftlichen Kontrolle der Staatsgewalten, durch die Begleitung von Mobilisierungen oder Massenprotesten und durch die Erzeugung neuer Autonomiebewegungen wie die der Frauen, der Jugend und der verschiedenen sexuellen Orientierungen.
Sprechen wir nun über die digital native Medien. Was thematisieren sie in Lateinamerika und wie frei sind sie?
Worauf ich besonders aufmerksam geworden bin, als ich 2010 die erste Studie über digitale Informationsmedien in Kolumbien leitete, war deren große Vielfalt, nicht nur, weil sie im ganzen Land verbreitet waren, sondern auch wegen der Themen, die sie behandelten, und den Verbindungen zu ihren Nutzern. Inzwischen haben wir in der Fundación Gabo die Forschung zu digitalen nativen Medien in Lateinamerika beendet, und diese Feststellungen haben sich verhärtet: In zwölf Ländern des Kontinents sind wir auf 1.521 digitale Medien gestoßen, die zusammen einen wahren, wuselnden Ameisenhaufen von Meinungsäußerungen bilden. Michel de Certeau nannte die Kultur einen Ameisenhaufen, der sich normalerweise an den Rändern ausdehnt. Und in Lokales Wissen erinnert Clifforf Geertz an einen afrikanischen Aphorismus, der lautet: „Weisheit tritt in einem Ameisenhaufen zutage.“ Das ist, was wir im Spektrum der digitalen Medien Lateinamerikas gefunden haben. Sie unterscheiden sich von den traditionellen Medien, weil sie ihre Eigenschaft, der Öffentlichkeit zu dienen, in den Vordergrund stellen, ihre Agenda weniger allgemein halten und stärker fokussieren, und sich an ihr Publikum richten, als wäre dieses eine Gemeinschaft. Zusammenarbeit betonen und Themen sowie Akteure hervorheben, die nicht immer im Mittelpunkt des Informationsinteresses stehen.
Und wie machen sie das?
Sie legen Wert auf Geschichten, wählen zugleich seriöse und zwanglose Designs; sie erfinden Narrative, die nicht nur die Beweggründe der Journalisten, sondern auch die Komplexitäten der Realität interpretieren. Die häufigsten Themen sind die Sorge um die Umwelt, die Berichterstattung über ökonomische, gesellschaftliche und politische Mächte, Gemeinschaftsaktionen, Bildung, Wissenschaft und Gesundheit. Es sind keine aufgeblasenen Apparate wie in der Vergangenheit, sondern Ameisen, die durch Netzwerke laufen, zahlreiche Bildschirme, verschiedene Modelle der Nachhaltigkeit und eine erstaunliche technische Flexibilität, selbst in Ländern wie Kuba, Nicaragua oder Venezuela, die strenge staatliche Kontrollsysteme haben. Der Ameisenhaufen erprobt viele verschiedene Arten, sich seine Freiheit zu erobern und durch Bisse Unbehagen auszulösen. Er steht dem Aktivismus nahe und hinterfragt vermeintliche Gewissheiten der journalistischen Tradition wie zum Beispiel Objektivität und Unparteilichkeit.
Wie schätzen Sie die Freiheit in den großen Medien Lateinamerikas ein?
Die großen Medien haben die Freiheit nicht aufgegeben, sie aber in Gefahr gebracht, als sie anfingen, sich für eine Macht zu halten. In seiner Antrittsvorlesung am Collège de France sagte Roland Barthes: „Die Macht ist Legion, wie die Dämonen.“ Und dann wies er darauf hin, dass sie sich in sämtliche Mechanismen des gesellschaftlichen Lebens eingeschleust habe, „bis hin zu den befreienden Wünschen, die versuchen, sie infrage zu stellen“. Es ist eine schreckliche Aussage, aber wahr. Die Absprachen der großen Medien mit anderen Mächten sind offenkundig, manchmal haben sie mutig und maßgeblich ihre Stimme erhoben – gegenüber den Diktaturen oder dem organisierten Verbrechen –, andere Male aber haben sie geschwiegen und sich zu Mittätern gemacht. Und die Rechnung dafür war ein immenser Vertrauens- und Glaubwürdigkeitsverlust: ihr wertvollstes Kapital.
All das ist passiert, während das Internet gewachsen und die Digitalisierung vorangeschritten ist.
Ja, aber auch während des Zusammenbruchs des Geschäftsmodells der Medien und ihres wirtschaftlichen Debakels. Daraus lernen wir, dass wir mit Technologien allein unsere Freiheit nicht absichern können; es braucht ein Gefühl für die Gesellschaft, Offenheit für Neuerungen, Scharfsinn, um die Bewegungen, die innerhalb der Nutzergemeinschaft entstehen, zu erkennen und zu deuten, stetige Beteiligung und ein aufmerksames Ohr für aufstrebende Stimmen und ihre dringenden Apelle.
Profil von Germán Rey, Fundación Gabo
https://fundaciongabo.org/es/comunidad/perfil/german-rey