Für viele Lehrende in Lateinamerika war die Arbeit schon vor der Corona-Pandemie eine Herausforderung. Die Social-Distance-Regeln, mit denen das Virus eingedämmt werden soll, machten die Situation noch schwieriger. Ein Lehrer einer öffentlichen Schule in Kolumbien erzählt von seinen Erfahrungen.
Freitag, der 13. März 2020, war der letzte Tag, an dem ich mit meinen Schülerinnen und Schülern aus der 7. Klasse zusammen im Klassenraum war. Ich bin 45 Jahre alt und arbeite an einer öffentlichen Schule im Stadtteil Ciudad Bolívar in Bogotá, Kolumbien, als Sozialkundelehrer. An meiner Schule betreuen mehr als 150 Lehrende ungefähr 4.500 Lernende. Viele von ihnen stammen aus Familien, die aufgrund von Mord und Gewalt, Armut oder Perspektivlosigkeit aus anderen Gebieten Kolumbiens vertrieben wurden. Unsere Schule ist tief verwurzelt im Stadtviertel: Oft sind es mehrere Generationen einer Familie, die unsere Klassenzimmer durchlaufen. Viele leben unter Bedingungen von Trennung, Missbrauch und häuslicher Gewalt.Deshalb war und ist es als Lehrer immer mein Ziel, die Schülerinnen und Schülern für die Art und Weise, wie wir miteinander umgehen, zu sensibilisieren – insbesondere Respekt für die Unterschiede im Denken und Handeln zu vermitteln. Ich denke, dass der Dialog das beste Mittel ist, das mir zur Verfügung steht, um zu einem achtsamen Zusammenleben zu erziehen und aggressive und gewaltbereite Einstellungen zu minimieren. Für dieses Ziel ist die enge Beziehung, die ich seit 10 Jahren zu meinen Schülerinnen und Schülern habe, von zentraler Bedeutung. Doch seit dem letzten Tag, an dem wir uns im Präsenzunterricht getroffen haben, hat unsere Beziehung eine Entfremdung erfahren.
Eine neue und unbekannte Distanz
Bogotá ist eine riesige Stadt, 33 Kilometer liegen zwischen meiner Wohnung und meiner Schule. Diese Entfernung bin ich früher jeden Tag gefahren, hin und zurück. Eine noch größere und vor allem komplett unbekannte Entfernung entstand jedoch auf einmal, als die kolumbianische Regierung, wie viele andere Regierungen auch, zu Beginn der Covid-19-Pandemie die Anweisung gab, dass wir zu Hause bleiben sollten und eine allgemeine Quarantäne zur Eindämmung der Ansteckungen verkündet wurde. Die körperliche Nähe im täglichen Umgang mit den Schülerinnen und Schülern, der Trubel, das Lachen, die Spiele, das Gerenne auf den Fluren – das alles war plötzlich vorbei.An diesem Punkt begann die große Mission, uns mit den Lernenden zu verbinden, sich über das Internet an sie anzunähern und so den Unterricht fortzusetzen, nur eben virtuell. Mein erster Schritt war, eine WhatsApp-Gruppe zu kreieren. Auf diese Weise schaffte ich es, fast 15 Schüler und ihre Familien zu erreichen, und das bei einer Gruppe, zu der 36 Jugendliche zwischen 11 und 14 Jahren gehören, für die ich als Klassenlehrer zuständig bin. Bald bemerkte ich, dass trotz Internet die Entfernung nicht geringer wurde. Die Interaktion kam allein durch Sprach- und Textnachrichten bei WhatsApp nicht in Gang. Also habe ich mein Facebook-Profil als Lehrer aktiviert, aber ich wurde sofort mit Warnungen wegen Verbrechen an Minderjährigen im Internet bombardiert. Und noch dazu: vom ersten Tag an und bis heute beeinträchtigt die schlechte Internetanbindung vieler Familien unsere Arbeit, sei es aufgrund von Mangel an wirtschaftlichen Ressourcen, aus Nachlässigkeit oder Passivität im Angesicht des Wandels.
Und es gab noch andere Herausforderungen. Paradoxerweise verlangte die Schule von uns, dass wir – obwohl es bereits ein großes Angebot an virtuellem Material und Lernplattformen gibt – um den Unterricht in irgendeiner Form fortzusetzen, nur Leitfäden zu den Inhalten der einzelnen Fächer entwarfen, damit die Schülerinnen und Schüler diese in ihren Heften weiterentwickeln, Fotos davon machten und zur Bewertung an uns per Mail oder über Google-Classromm schicken sollten.
Tägliche Herausforderungen des virtuellen Unterrichts
Es hat sich eine besondere Form der Distanz gezeigt: für jene, denen es schwerfiel die Texte mit den Arbeitsanweisungen in unseren Leitfäden zu verstehen. Außerdem wurde deutlich, dass die Kommunikation in den sozialen Netzwerken immer noch unter einem Deckmantel aus Spott, Memes, Falschmeldungen und grotesken Nachrichten liegt. Und leider scheint genau diese Art von Kommunikation unter Jugendlichen besonders beliebt zu sein.Eines Tages etwa wollte ich eine Unterrichtseinheit über Zoom durchführen, um auf diesem Weg eine neue Möglichkeit zu mehr Nähe zu initiieren und um die Fragen der Lernenden zu dem Thema zu erfahren, mit dem wir uns beschäftigten: dem Mittelalter. Für diesen Termin antworteten nur neun der Lernenden auf meinen Anruf. Letztendlich haben sich dann zwei eingeloggt. Und während des virtuellen Treffens hatte eine Schülerin Besuch von zwei Jungs, die ich nicht kannte, die aber anfingen, sich über uns lustig zu machen und Schimpfwörter zu rufen, sodass die Kommunikation zwischen mir und meiner Gruppe komplett gestört wurde.
Deutlich zeigte sich auch der Abstand zwischen den Generationen, genauso wie die Distanz in der Kommunikation, wenn nur schriftliche Nachrichten ausgetauscht wurden, im Gegensatz zu der Nähe, die entsteht, wenn wir vis-à-vis miteinander sprechen und unsere körperliche Präsenz, Gestik, und den direkten Augenkontakt einsetzen können.
E-Mails zu erhalten mit abfotografierten Antworten, die man gar nicht lesen konnte, weil die Handschrift so krakelig war, wurde zu etwas ganz Alltäglichem. Die Fülle der Möglichkeiten zur virtuellen Kommunikation, die mir zur Verfügung stehen, erlebte ich in einem krassen Gegensatz zu der Schwierigkeit, wirklich eine produktive Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern zu erreichen, um sie dahin zu führen, dass sie ein Video oder einen Podcast als mögliche und praktische Formate zum Lernen annehmen und diese auch selbst erstellen können. Und hier wird die Distanz noch einmal deutlich, und zwar anhand der sozialen Ungleichheit und der Privatisierung des Internets. Die mangelnde Internetanbindung vieler Familien ist und bleibt weiterhin eine unüberwindbare Distanz, wenn es darum geht, Nachrichten und Ideen zwischen Lernenden und Lehrenden auszutauschen.
So standen wir immer wieder vor ein und derselben Herausforderung, die wir schon lange kennen: Unsere Schülerinnen und Schüler werden „digitale Natives“ genannt. Aber nicht alle haben überhaupt Zugang zu einem Smartphone oder Computer, was ihnen erlauben würde, alle Möglichkeiten des technologischen Fortschritts zu nutzen. Und diejenigen, die Zugang zu diesen Geräten haben, betrachten sie oft als Luxus oder flüchtigen Zeitvertreib. Wir müssen sie erst noch davon überzeugen, dass es über die sozialen Medien hinaus noch andere Möglichkeiten der Nutzung von digitalen Medien gibt.
Über die reine Inhaltsvermittlung hinaus
Welche Erkenntnisse habe ich durch die Erfahrung der letzten Monate gewonnen? Eine ist, dass die Bildung eine Revolution ihrer eigenen Methodologie begonnen hat und aus einer ihrer traditionellsten Strukturen ausgebrochen ist: dem Klassenzimmer. Und wir mussten praktisch von heute auf morgen beginnen, eine virtuelle Nähe zwischen Lernenden und Lehrenden zu schaffen, aber im Laufe der Monate des Eingesperrtseins und der Quarantäne haben bis heute nur wenige Kenntnisse und Fertigkeiten für eine nachhaltige virtuelle Kommunikation entwickelt.Die aktuelle Pandemie hat uns ermöglicht zu beobachten, dass physische Distanzierung nicht zu sozialer Distanzierung werden sollte. Ganz im Gegenteil: wir müssen weiterhin daran arbeiten, die Nähe, die uns die virtuellen Medien ermöglichen, erst einmal aufzubauen. Die Hauptverantwortung liegt beim Staat. Im Fall von Kolumbien hat dieser immer noch nicht die Aufgabe erfüllt, für einen sicheren und kostenlosen Internetzugang in den einkommensschwächeren Sektoren zu sorgen.
Letztendlich konnte ich nur bestätigen, was ich schon seit Jahren weiß: dass meine Arbeit als Lehrer nicht in der bloßen Wissensübermittlung besteht. Alle Inhalte findet ja man im Netz! Meine Arbeit konzentriert sich jetzt mehr denn je darauf, meinen Schülerinnen und Schülern das Lesen beizubringen, verstehen zu lernen, was man liest und sich respektvoll gegenüber anderen Menschen zu verhalten. Ich habe verstanden, dass mein Verhalten aus der Entfernung – ohne Zweifel immer noch mit sehr viel Mühle – die Nähe und Solidarität erhöhen kann, die wir in einem Land wie Kolumbien brauchen.
Oktober 2020