Der deutsche Schriftsteller Valentin Moritz ist dankbar für seine Träume – auch für die schlechten. Hier schreibt er über ihre Bedeutung und Relevanz fürs Leben.
Im Haus meiner Eltern gab es einen Raum unterm Dach, den sollte ich nicht betreten. Sie verboten es mir zwar nie ausdrücklich, aber dort oben, behauptete mein Vater, gäbe es ohnehin nichts als ein paar alte Möbel, in denen Hornissen nisteten, und die Bodenbretter seien so rau, dass ich mir am Ende einen Splitter holen würde, und dann wäre das Geschrei wieder groß.Aber er log.
Denn im Raum unterm Dach wohnte ein Mann, und der war lässig drauf. Der erzählte mir schräge Witze, über die wir gemeinsam lachten, der rauchte selbstgedrehte Zigaretten und schämte sich oft dafür. Wir spielten Schach, Dame, Mühle, tranken Eistee im Sommer oder heiße Schokolade im Winter. Er erklärte mir, wie aus Kaulquappen Frösche wurden, las mir aus einem seiner unzähligen Bücher vor oder bewarf mich mit Spielzeugdinosauriern, die an mir abprallten wie mein glitzernder Gummiball an unserem Garagentor. Der Mann unterm Dach hatte keinen Namen, aber bunte Fingernägel wie meine Cousinen, und dazu einen feuerroten Schnauzer.
Wir kamen jedenfalls gut aus, und immer plante ich, meinen Freunden von ihm zu erzählen und von den Geschichten, die er mir auftischte. Aber meist vergaß ich mein Vorhaben im Laufe des Morgens, zumal meine Mutter schon beim Frühstück abwiegelte: Beeilung, der Schulbus wird nicht warten, oder: Pack das Badezeug bloß ein, denn heute geht‘s zum Schwimmen, ob du‘s möchtest oder nicht. Und mein Vater, den ich neuerdings im Schach besiegte, regte sich so sehr auf, dass er sich die Ohren zuhielt oder im Büro verschwand, bevor ich ihm erklären konnte, mit wem ich geübt hatte.
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Ich bin dankbar für meine Träume. Ohne sie wäre ich nur ein halber Mensch. Oder vielleicht noch nicht einmal das. Und wenn ich vom Träumen spreche, dann meine ich zunächst tatsächlich das, was mein Unterbewusstsein zwischen meinen Schläfen veranstaltet, solange ich schlafe. Ich behaupte: Ein Hirn, das nicht träumt, ist auch im Wachzustand nicht fähig, unerhörte Ideen und utopische Vorstellungen zu produzieren. Und ja, auch andere Tiere durchleben Träume im Schlaf, aber ob sie diese nach dem Aufwachen auch erinnern und reflektieren können?
Selbst Albträume – wir brauchen sie. Sie lehren uns den Umgang mit Ängsten, Verlusten, Schuldgefühlen. Mir etwa fallen regelmäßig die Zähne aus. Gar nicht schön. Oder irgendwelche Verfolger schleudern scharfkantige Wurfsterne nach mir, ein Tsunami rollt heran, ich sitze am Steuer und kann nicht bremsen… Warum? Weil ich in der Wirklichkeit meine Freundin betrüge? Weil ich überarbeitet bin, und mein Chef mich fertigmacht? Weil mich die Einsamkeit plagt?
So oder so: Meine Träume sind von der Wirklichkeit beeinflusst, doch zugleich gestalten sie meinen Tag, meine Beziehungen, meinen Willen zum Leben. Was für ein Schatz, gerade als Schriftsteller! Also verfasse ich Traumprotokolle – eine Art morgendlicher Meditation, um mich besser zu erinnern. Nicht im esoterischen Sinn, nicht als Vehikel der „Erleuchtung“, sondern als schlichte, oft anstrengende Übung zu mehr Tiefe und Konzentration.
Ich bin dankbar für meine Träume – auch für die schlechten. Sie sind die besten Sparringspartner, die ich mir vorstellen könnte.
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Es gibt nur ein Problem und das heißt Deutschland. Einst der Beweis dafür, dass Albträume wahr werden können – und heute ein traumloses Land, in dem noch der letzte Dachboden ausgebaut und mit dicken Isolationsschichten gedämmt worden ist. Und vielleicht ist das auch gut so, vielleicht sollte man in einem Land, das für den Holocaust verantwortlich ist, schlichtweg nicht mehr träumen.
Den Traum vom privaten, berechenbaren Glück in Wohlstand und Sicherheit in einer Welt, in der alles für immer so bleibt, wie es jetzt schon ist, den leben wir ja bereits ... Und mögen sich daran all jene, die es schwerer haben, gerne orientieren, anstatt zu revoltieren – es wird die Ungleichheit nur weiter zementieren.
Der deutsche Traum ist ein böser Traum. Einer, gegen den es anzuschreiben gilt.
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Der Mann unterm Dach war irgendwann fort, aber das war okay. Er hatte das kleine Fenster unter dem Giebel offengelassen – das Fenster, das einen fliegen lässt. Ich schob mir einen Stuhl heran, kletterte hinauf und sprang. Zunächst kam das Dorf näher, dann wurde es unter mir immer kleiner, meine Augen größer, die Finger spreizten sich wie Federn im Wind.
Bevor wir mit dem Strom zu schwimmen lernten, konnten wir alle fliegen.