Morgana Kretzmann  „Wir alle sind schuld“

Brücken über den Abgrund, 2017
Brücken über den Abgrund, 2017 © Aline Motta

„Alle meine Geschichten entstehen im Umland des Rio Uruguay“, erzählt Morgana Kretzmann. Man muss diesen Fluss erst um Erlaubnis bitten, bevor man ins Wasser steigt, sagt sie. „Dieses Wasser hat Misshandlungen überstanden, vernachlässigten Naturschutz und Abholzung.“ Aber wie lange noch?

Der Fluss war ein heiliges Wesen namens Omí Yeyeôô.

Eine Heilerin, die von sich behauptet, 104 Jahre alt zu sein und die ich hier Dona Alma nenne, sagt, ihre Vorfahren erzählten ihr heute noch im Traum und im Wachzustand, dass der Rio Uruguay einmal einem einzigen Land angehört habe: Boaytala. Dort lebten Menschen aller Clans und Ethnien. Der Rio Uruguay war sehr ruhig und sauber und von einem hellen, fast klaren Grün. Die Menschen durchschwammen ihn, und an manchen Stellen durchquerten sie ihn auch zu Fuß. Die unterschiedlichen Völker, die in dem Gebiet lebten und sich darum kümmerten, lebten in Harmonie miteinander. Jedes Volk hatte seine eigenen Glaubensvorstellungen, aber alle glaubten an den Segen des Wassers des Uruguay. Der Fluss war ihnen ein heiliges Wesen namens Omí Yeyeôô. Irgendwann kam ein Mann mit gelben Augen und feuerfarbenem Haar in einem riesigen Schiff.
 


Der Rio Uruguay ist ein wichtiger Wasserlauf für Lateinamerika. Er entsteht etwa 65 Kilometer entfernt vom Atlantik im brasilianischen Osten zwischen den Bundesstaaten Santa Catarina und Rio Grande do Sul, fließt erst einmal wie auf der Suche nach etwas Verlorenem landeinwärts zur argentinischen Grenze, wo sein trübes Wasser dann die beiden Länder trennt. Schließlich mündet er an der Grenze zu Uruguay in den Rio de la Plata. Dort wird er ruhig und heiter und ist nach 1770 Kilometern Reise endlich zu Hause. Ich bin am Ufer dieses Flusses geboren, barfuß auf der roten Erde, die sein Wasser umgibt. Alle meine Geschichten sind dort entstanden und entstehen dort weiterhin.

Was früher Fluss gewesen war, wurde Morast.

Dona Alma erzählt, dieses Schiff sei dem Wasserlauf über Hunderte Kilometer gefolgt und habe eine schmutzige Spur hinterlassen: eine zähe, dunkle, stark riechende Flüssigkeit. Dies habe nicht nur den Fluss eingetrübt, sondern auch alles in seiner Umgebung getötet: Kinder, alte Menschen, Frauen, Männer. Und auch alle Fische und Tiere, die dort gelebt hatten. Der Fluss Uruguay wurde geflutet von Gift und von Blut. Omí Yeyeôô war tot. Die Überlebenden mussten fortgehen. Das Land um den Fluss herum begann auszutrocknen, und was früher Fluss gewesen war, wurde Morast.

Der Rio Uruguay ist für Südamerika von höchster Bedeutung: wirtschaftlich, ökologisch, geografisch und gesellschaftlich. Die Menschen am Fluss und in seiner Umgebung betonen schon immer, wie wichtig es ist, dem Wasser Respekt zu zollen, denn der Fluss hat schon viele in seiner Strömung umkommen lassen. Sein Wasser will erst um Erlaubnis gebeten werden, bevor man hineingeht. Aber das Wasser selbst kämpft auch ums Überleben: unbehandelt eingeleitete Abwässer, Pflanzengifte aus Tausenden Hektar Sojaanbau in seiner Umgebung – auf argentinischer wie brasilianischer Seite –; es versucht, Boote und Kähne zu überleben, die Motoröl oder Treibstoff verlieren und illegal Fischfang betreiben, übersteht Misshandlung, vernachlässigten Umweltschutz, die Abholzung der Wälder am Ufer. Wie lange werden wir den Uruguay noch haben, wenn nicht ein Umdenken einsetzt über Umweltschutz, die Endlichkeit der Ressourcen und den Klimawandel?

Der Fluss lebt wieder, die Fische kehren zurück, das umgebende Land ist nicht mehr Wüste.

Die Jahrhunderte zogen ins Land und die Gegend war wüst und das Wasser des Uruguay tot. Eines Tages erschien Omí Yeyeôô wieder aus dem Morast, doch in Gestalt eines Jaguars. Sein Fell stach goldfarben ab von dem dunklen Morast, der schon einmal Wasser gewesen war, schon einmal er selbst gewesen war. Eines Morgens erscheint dort nach langer Pilgerschaft eine vierköpfige Familie, ausgehungert und durstig. Mutter, Vater und die zwei Töchter folgen dem Lauf dessen, was einmal ein Fluss gewesen war, in der Hoffnung auf Wasser. Erschöpft fangen die Kinder zu weinen an. Unbemerkt nähert sich ihnen Omí Yeyeôô. Als die Eltern den Jaguar bei den Kindern sehen, greifen sie erschrocken nach Ästen und Steinen und werfen nach ihm, bis er verletzt ist. Verwundet stürzt sich Omí Yeyeôô auf die Erwachsenen und zerfetzt ihnen mit seinen Krallen die Kehle. Die verzweifelten Kinder weinen noch mehr. Ihr Weinen klingt schrecklich in den Ohren von Omí Yeyeôô, und verunsichert bereut Omí Yeyeôô die unbedachte Tat. Sie bringt die Leichen der Eltern ans andere Ufer des früheren Flusses und setzt sie dort bei. Die Tränen der Kinder vermischen sich mit dem Morast und allmählich wird aus dem Schlamm wieder Wasser, und dieses Wasser wird wieder zum Fluss. Der Jaguar, den unendliche Reue plagt, steigt an seiner tiefsten Stelle in den Uruguay und verschwindet in einem gigantischen Strudel. Der Uruguay lebt wieder, die Fische kehren zurück und das umgebende Land ist nicht mehr Wüste. Die Kinder hören auf zu weinen und fangen endlich wieder zu leben an.

Sieben Wasserkraftwerke gibt es am Uruguay und Dutzende sind noch geplant, unter anderem der Staudamm Garabi-Panambi, der einen Teil des ersten in Südbrasilien eingerichteten Naturschutzgebiets, den Parque Estadual do Turvo, fluten sowie den größten Längswasserfall der Welt, den Salto do Yocumã, verschwinden lassen würde. Projekte, die Fauna, Flora, das Land, ganze Gebiete und die dort lebenden Gemeinschaften vernichten würden.

Nach der Klimakatastrophe, die Rio Grande do Sul im Moment durchlebt, den Verwüstungen, dem Zusammenbruch eines ganzen Bundesstaats durch außergewöhnliche Starkregen aufgrund der weltweit spürbaren Erderwärmung, ist nicht mehr zu übersehen, dass all das keine Einzelfälle mehr sind: Es kann auch Ihr Land treffen, Ihre Region, jederzeit. Wir müssen verstehen, dass auch wir schuld daran sind. Es ist die Schuld von uns allen, und wir hören nicht auf, Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen. Wir alle sind schuld, da wir noch immer unsere Politik, die Gesetzgebung, die Großunternehmen nicht genug in die Pflicht nehmen. Es braucht ein neues Bewusstsein, ein planetares und nicht mehr individuelles Bewusstsein, sowie ein Umdenken in Richtung der Zukunft und künftiger Generationen. Wir müssen uns jeden Tag fragen: Will die Generation nach mir tatsächlich die Welt in dem Zustand haben, wie ich sie ihr hinterlasse?

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