Städtebauliche Entscheidungen können soziale Grenzen in Städten ebenso verfestigen wie durchlässiger machen. Welche baulichen Strukturen benötigen wir für inklusivere, gemeinschaftliche Städte?
Bei ihren ersten Besuchen am Standort des späteren Kulturzentrums SESC Pompeia in São Paulo im Jahr 1976 zeigte sich die brasilianische Architektin Lina Bo Bardi begeistert, nicht nur von den Räumlichkeiten und der Stahlbetonstruktur vom Anfang des 20. Jahrhunderts, sondern vor allem von dem spontanen Treiben, das dort herrschte. „Kinder rannten herum, Jugendliche spielten Fußball im Regen, der von den zerborstenen Dächern tropfte, lachten, wie der Ball durch das Wasser spritzte. Die Mütter bereiteten am Eingang von der Rua Clélia Spieße und belegte Brote zu; ein Puppentheater gab es dort, vollbesetzt mit Kindern. Ich dachte: All das muss so weiter gehen, mit all dieser Fröhlichkeit“, berichtete die Architektin später, nachzulesen in dem Buch Lina por escrito von 2009.Was Lina Bo Bardi dort als erhaltenswert erkannte, war das von einem öffentlichen Raum ausgehende Gefühl von Zugehörigkeit. So machte sie diesen 1982 zu einem der bemerkenswertesten Freizeitzentren der Welt. Nicht von ungefähr wird das Projekt als ein gutes Beispiel in der Ausstellung Zugang für alle - São Paulos architektonische Infrastrukturen gezeigt, die 2019 im Museum für Architektur der Münchener Pinakothek zu sehen war.
Kuratiert von Daniel Talesnik beleuchtet die Ausstellung, wie die Megastadt São Paulo mit ihren mehr als 12 Millionen Einwohnern Strukturen geschaffen hat, die den dortigen Mangel an offenen und urbanen Freizeiträumen entschärfen sollen. Gemeinsames Element der gezeigten Projekte ist die Betonung des Dialogs mit der Umgebung. „Wir haben Werke unterschiedlicher Ausprägung aufgenommen, die inklusive Bereiche für die Gesellschaft schaffen“, sagt Talesnik. Als inklusiv erachtet der Kurator bauliche Strukturen, die Begegnung von Menschen fördern, durch Sport, Kultur oder Bildung. „Es geht um die Feststellung, dass Architektur auch eine politische Seite hat“, fügt er hinzu.
Sich bewegende Grenzen
„Auf der Makroebene sehen wir als ein Hauptproblem sozioterritoriale Exklusion und Ungleichheit, die in ganz Lateinamerika, dem städtischsten Kontinent der Welt, eine Rolle spielt. Wir haben eine schwierige urbane Realität, verbunden mit einer ungleichen Ökonomie - was man nicht vergessen darf, wenn man die Stadt denken will, egal, ob es um den Bau eines Einfamilienhauses geht oder von etwas Größerem“, sagt der Architekt Vinicius de Andrade aus São Paulo.Laut Zählung des Brasilianischen Instituts für Geografie und Statistik IBGE aus dem Jahr 2010 lebten in Brasilien damals um die 11,4 Millionen Personen in Gemeinschaften mit niedrigem Einkommen, die traditionell als „Favelas“ bezeichnet werden. Weltweit schätzt das Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen ONU-Habitat 2018 eine Milliarde Menschen unter solchen Verhältnissen. „Die Favela ist eine Art Grenze, die Außengrenze der Stadt. Die andere Seite der Favela jedoch ist die Stadt selbst; sie hat keine andere Seite. Eine Person, die aus der Favela tritt und sich durch die Stadt bewegt, ist diese Grenze selbst, die sich bewegt. Der schwarze, arme, in die Favela verdammte Körper ist eine sich bewegende Grenze und genau deswegen Risiken ausgesetzt“, reflektiert der Philosoph und Theaterdirektor José Fernando Peixoto de Azevedo, Professor an der Universität São Paulo und einer der Gründer der Theatergruppe Teatro de Narradores, die mit vielen Stücken öffentliche Räume besetzt und ihre Bühne und ihre Themen in der Stadt und ihren Konflikten selbst findet.
Die Risiken, von denen Peixoto de Azevedo spricht, sagen viel über die Distribution von Gewalt. „Eine komplexe Angelegenheit, die in der heutigen Stadt mit bedacht werden muss, denn Architektur gestaltet auch Körper. Es gibt Räume, die sie unterdrücken, wenn sie besonders abgegrenzt oder überwacht sind. Architektur ist eine permanente Verhandlung mit Körpern“, sagt Peixoto de Azevedo.
Gefangene der Kontrolle und Ausgrenzung
Aus dieser Verhandlung entsteht eine Sicherheitsrhetorik, die sich in Mauern, Schranken, Zugangscodes, Kontrollen und getrennten Zugängen zu Unternehmen mit starkem Sicherheitsapparat ausdrückt. „Es gibt in der Architektur einen extrem einschränkenden Aspekt. Wenn du eine Wand baust, sagst du: ‚Hier kommt keiner durch‘. Uns bleibt der Versuch, Freiheitsbereiche zu erweitern, was aber nach wie vor zu beobachten ist, sind Architekturen, die von einem falschen Sicherheitsgedanken ausgehend an einer radikalen Aufteilung der Stadt arbeiten“, sagt Carlos Alberto Maciel von Büro Arquitetos Associados in Belo Horizonte. „Es gibt bereits Wohnungen mit Iris-Scannern, das heißt, man hat eine Situation erreicht, in der Zwang den Alltag kolonisiert und den Bewohner selbst zum Gefangenen einer Kontroll- und Ausgrenzungsstruktur macht“, fügt der Architekt hinzu.Selbst die Bauausführung kann dazu dienen, Nähe oder Distanz zu schaffen: „Kommunikation über Materialbeschaffenheit. Es ist wichtig, bei der Planung schon die Vermittlung von Gebäude und Stadt zu leisten, urbane Freundlichkeit, wie es viele nennen.“ Daran erinnert der Architekt Luis Mauro Freire von der Escola da Cidade und Partner im Architekturbüro Projeto Paulista.
Respekt vor lokalen Besonderheiten
Doch wie lässt sich lokale Identität durch den architektonischen Eingriff bewahren? Was schafft das Gefühl von Zugehörigkeit zu einem Ort? „Das hängt mit den von der Bevölkerung aufgebauten sozialen Netzwerken zusammen. Architektur darf sich nicht aufdrängen, sondern muss das Gefüge im Viertel berücksichtigen, die Vegetation und die lokalen Kulturen“, sagt die Architektin und Städteplanerin Elisabete França. Darauf wurde seinerzeit bei der Schaffung der Centros Educacionais Unificados geachtet, die seit 2003 in São Paulo errichtet wurden, eine politische Maßnahme in den ärmeren Regionen der Stadt. Insgesamt 46 solcher Einheiten gibt es heute. „Die Idee war, ein Fundament zu errichten, das auf Prinzipien des kollektiven Aufbaus des Ortes basiert, solche Lichtungen aufzumachen - kulturelle Nischen, die eine Begegnung des Unterschiedlichen ermöglichen“, verrät Alexandre Delijaicov, Architekt und Professor an der Universität von São Paulo und einer der Verantwortlichen für das Projekt.Ein wichtiges Beispiel für diesen Versuch der Achtung von Identität in der Architektur ist Kolumbien. „Der soziale Städtebau im Land verfolgt einen integrativen Ansatz“, betont Andrade. In Medellín, das in den 1990er Jahren als gewalttätigste Stadt der Welt galt, ging die Zahl der Tötungsdelikte zwischen 1991 und 2010 um 80 Prozent zurück, dank Verbesserungen, mit denen es gelang, mit kritischen Themen, darunter dem organisierten Handel mit Drogen, umzugehen.
Zu diesen Verbesserungen gehörte die Anbindung von peripheren Wohngegenden über Seilbahnen und die Schaffung von Parks mit Bibliotheken, auf Empfehlung von Soziologen und Städteplanern, stets unter Einbindung der Bevölkerung. „Seit den 1980er Jahren wirkte international ein Schema, das jeder Stadt dieselben Dinge überstülpte. Das hat heute abgenommen, und lokale Besonderheiten rücken in den Vordergrund, ebenso wie die Suche der Architekten nach Lösungen für die größten Herausforderungen des neuen Jahrhunderts: städtische Prekarisierung und Umweltschutz“, schließt França.
Oktober 2019